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In Deutschland ging die Entwicklung andere
Wege, wenn auch das die Entwicklung beherr-
schende Prinzip das gleiche war. Hier konzen-
trierten sich die Territorialstaaten, die 1648 auch
formell die volle Souveränität erhielten.
Die von Wilhelm von Occam in der ersten
Hälfte des 14. Jahrh. neubelebte epikureische
Theorie, wonach der Staat mit seinem ganzen
Rechtssystem auf einem Vertrage beruhe, ging in
die neuere Philosophie über und erstreckte ihre
Wirkung über das gesamte 18. Jahrhundert. Be-
sonders waren es die englischen Philosophen Tho-
mas Hobbes und John Locke, die den Staat als das
Kunstwerk der in Not befindlichen, im Kampfe
miteinander um Leben und Gut bangenden Men-
schen betrachteten. Während nun Hobbes diesen
„Willen zur Macht“ als Wurzel der Wünsche, den
Nutzen als Maß des Rechts und dessen Leitung
durch die Vernunft als Bedingung des Zusam-
menlebens der Menschen ansah und hierauf die
künstliche Konstruktion des Absolutismus er-
richtete, gelangte Locke vom gleichen Ausgangs-
punkt zur Trennung und zum Gleichgewicht der
drei Staatsgewalten, der legislativen, exekutiven
und föderativen (Verwaltung nach innen und
außen), diese beherrschte Montesquieus Schriften
und wurde durch Rousseau zum „plebejischen Impe-
rialismus“, zum radikalen Demokratismus durch-
geführt. — Dieser Wille zur Herrschaft,
das Streben nach Macht, das Streben der mensch-
lichen Natur, sich eine Zukunft der Ruhe und des
Wohlbefindens durch rationelle Ausübung und
Mehrung ihrer Macht vorzubereiten, ist zu ver-
schiedenen Zeiten verschieden gewesen. Der Ver-
treter des indogermanischen oder arischen
Rassenimperialismus ist Gobineau,
der die Lehre von der Kulturmission der weißen,
d. h. der arischen Rasse verkündet; dessen Gedanken
hat E. Seilliere in seiner Philosophie de
Pimpérialisme eingehend dargelegt. — Nach
Seillière sind der plebejische Imperialismus Rous-
seaus, der proletarische Individualimperialis-
mus Proudhons und der proletarische Klassen-
imperialismus von Karl Marx die Quellen der
heutigen demokratischen Bewegung. — Seilliere
will den proletarischen Imperialismus „in die
Wege einer gesunden Vernunft zurückführen“, er
will den „rationellen Imperialismus“ vorbereiten,
dem die Zukunft gehöre. — Die französische Re-
volution und die in ihrem Gefolge sich abspie-
lenden Kriege haben überall das Gefühl des Na-
tionalbewußtseins in einer vorher ungeahnten
Weise geweckt. Und gerade der Imperialismus
Napoleons I. hat durch seine Vergewaltigun-
gen die Idee des Vaterlandes allenthalben wie-
der wachgerufen. Und so ist denn fast das ganze
19. Jahrhundert beherrscht vom Nationalitäts-
gedanken. Der Gedanke beruht darauf, daß die
Völker, die sich aus Menschen zusammensetzen,
welche unter den gleichen Gesetzen leben wollen,
das absolute Recht haben, sich ihr Leben so ein-
Imperialismus.
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zurichten, wie sie es wollen und können. Das ab-
gelaufene 19. Jahrhundert mit seiner demokrati-
schen Tendenz war auch das Jahrhundert der Na-
tionalität; die Ziele der Völker um die Wende zum
20. Jahrh. sind weitere; ihre überkommenen Gren-
zen, ihr nationaler Besitzstand erscheint ihnen zu
eng, jedes Volk beansprucht für seinen Handel und
seine Industrie neue Einflußsphären, jedes will neue
Absatzgebiete und neue Handelsmöglichkeiten. Wir
sahen und sehen, wie die Großmächte den Erdball
unter sich aufteilten, und sehen das Bestreben,
immer neue Gebiete sich zu sichern. Und diese im-
perialistische Politik, welche zur Nationa-
litätspolitik hinzugekommen ist und die Gegenwart
beherrscht, ist gefährlicher als die letztgenannte.
2. Der deutsche Imperialismus. Seit
dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrh. ist auch im
Deutschen Reiche der Imperialismus stark in die
Erscheinung getreten. Recht häufig ist die Meinung
vertreten, daß Deutschland nicht mehr Agrarstaat,
sondern Industriestaat, daß deshalb an Stelle von
Volkswirtschaft Weltwirtschaft, an Stelle von Na-
tionalismus nunmehr Imperialismus zu treten
habe. Zur Stütze dieser Tendenz sucht man aus
der Statistik der Berufsarten in Deutschland zu
beweisen, daß das Reich überwiegend Industrie-
staat geworden sei. Nun sind aber in der letzten
Berufszählung in den Sammelbegriff „Industrie"
die verschiedenartigsten Dinge mit sehr weit aus-
einandergehenden Interessen nebeneinander ge-
zählt. Die einzelnen Berufsgruppen enthalten
Groß-, Mittel= und Kleinbetriebe, die doch zum
Teil einander direkt widerstrebende Interessen
haben. Ferner hat man diejenigen Veredlungs-
und Verarbeitungsgewerbe, die auf der Landwirt-
schaft sich aufbauen, gleichfalls schlankweg und
vorbehaltlos dem Sammelbegriff „Industrie“ zu-
gewiesen. So= charakterisiert sich das Schlagwort
vom „überwiegenden Industriestaat“ selbst als
eine unerwiesene Ubertreibung, wenn man die sta-
tistischen Gruppen und Begriffe auf ihre Wirksam-
keit im praktischen Leben näher untersucht. Die
deutsche Volkswirtschaft ist heute weder ein „In-
dustriestaat“ noch ein „Agrarstaat“, sie ist ein
mächtiges, feingegliedertes System von Berufen
und Erwerbszweigen, die alle gegenseitig sich
tragen und ergänzen. Daß Deutschland durch die
allgemeine Weltdepression des Jahres 1908 we-
niger gelitten hat, verdanken wir, wie der Abge-
ordnete Trimborn in seiner am 6. März 1909 im
preußischen Abgeordnetenhause gehaltenen Rede
betonte, der auf dem Zolltarif und den Handels-
verträgen aufgebauten Wirtschaftspolitik. Und die
Folge dieser Wirtschaftspolitik war, daß die Land-
wirtschaft kaufkräftiger und der innere Markt für
die Industrie offengehalten worden ist, daß die
Industrie widerstandsfähiger geworden ist im
Konkurrenzkampf um den Welthandel, um die
Auslandsmärkte. Mit Recht erklärte Trimborn,
daß unsere Volkswirtschaft die Wurzeln ihrer
Kraft hauptsächlich im heimischen Markte haben