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müsse, aus ihm ihre autochthone Stärke und in
erster Linie die Kraft gewinnen müsse zum Wett-
kampf mit dem Auslande, namentlich in den Krisen-
jahren. — Diesen richtigen Erwägungen gegen-
über sucht der Imperialismus die Welt als seinen
Markt zu gewinnen. Der pangermanische Im-
perialismus erstrebt als Ziel ein pangermanisches
Deutschland, das um seinen aus dem heutigen
Deutschen Reiche bestehenden Kern eine Reihe
anderer deutschsprachiger Staaten umfassen soll,
nämlich Deutsch-Osterreich, die deutsche Schweiz
und Holland. Der Weg zu diesem Ziel soll durch
ein pangermanisches Zollgebiet führen.
3. Der russische Imperialismus wendet sich
nach der sibirischen Seite, wo noch unermeßliche
Bodenschätze liegen; ihre Ausbeutung ermöglicht
den Russen weite Zukunftsperspektiven, die auf
einen Panflawismus (s. d. Art.) hinzielen.
Auch im amerikanischen Imperialis-
mus ist die Rassenfrage mit der Interessenfrage
verquickt. Die amerikanische Expansion begnügt
sich keineswegs mit dem Ziele: Amerika den Ame-
rikanern; sie ist wie die englische imperialistisch
und bedeutet im tiefsten Grunde Anspruch auf
Weltherrschaft. Die Mittel hierzu sind Stärkung
der Kriegsmacht des Staates, Förderung der
Handelsmarine, energische Schutzzollpolitik nach
dem Grundsatz der Reziprozität, Einschränkung
der Einwanderung. Ein großer Schritt vorwärts
bedeutet für die nordamerikanische Union die ener-
gische Inangriffnahme des Panamakanals. Und
bereits dringt der Yankee speziell in die deutschen
Einflußgebiete Brasiliens ein, um dereinst das
dortige Deutschtum aufzusaugen. Der amerika-
nische Imperialismus will sich durch die Macht
des Geldes und das Schleudern von Waren den
Weltmarkt erobern; in diesem Bestreben ist er
wesentlich unterstützt durch den großen Reichtum
an Kohlen, um seine Fabriken auf Jahrhunderte
hinaus zu versorgen, durch den Reichtum an Ge-
treide, um damit alle europäischen Märkte zu
überschwemmen. Seine Trusts versuchen, alle
Konkurrenten zu vernichten. — Dieser vom ame-
rikanischen Imperialismus dem alten Europa-
drohenden Gefahr zu begegnen, sind schon viele
Vorschläge gemacht worden; so sehen viele in der
Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“
allein das Mittel, sich der drohenden Konkurrenz
zu erwehren.
5. Der älteste und stärkste Imperialismus ist
der britische. Das britische Reich ist zunächst
eine politische Machtorganisation, als solche be-
ruht es auf der Seeherrschaft der englischen Kriegs-
flotte. Es umfaßt ein Viertel der Erdoberfläche
und nahezu ein Drittel der Menschheit. Aber die
britische Weltmacht ist nicht nur eine politische
Organisation, wie etwa das russische Reich, son-
dern beruht vor allem auch auf wirtschaftlicher
Grundlage. Englands Weltstellung erwuchs zu-
nächst aus einem kurzen, aber entscheidenden Kampfe
mit Holland, sodann aus einem fast 200jährigen
Imperialismus.
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Kriege gegen Frankreich. Und die Siege Eng-
lands hatten auch wichtige wirtschaftliche Folgen.
Im Verlaufe dieses Kampfes erwarben die Eng-
länder ein ungeheures Kolonialreich, das sie mono-
polisierten. Manchestertum und Imperialismus
sind die Gegensätze, in denen sich das politische
und volkswirtschaftliche Denken des englischen
Volkes im 19. Jahrh. bewegt. Dem Manchester-
tum gilt als Ziel des Lebens das möglichst große
Glück, das ihm gleichbedeutend ist mit Reichtum.
Mittel hierzu ist ihm die freie Konkurrenz, die
Beseitigung aller politischen und ideellen Faktoren
aus dem Wirtschaftsleben und damit dem mensch-
lichen Leben überhaupt; der Staat hat sich jed-
weden Eingriffs in den Güterverkehr zu enthalten,
es fordert also Freihandel, verlangt Loslösung der
Kolonien von den Mutterländern, sobald die Ko-
lonien es wünschen oder sobald sie den Mutter-
ländern nicht rentieren. In der Kolonialpolitik
hat aber England die strenge Manchesterlehre nur
dort befolgt, wo sie den britischen Interessen an-
gepaßt war; es verzichtete nicht ganz auf seine
Kolonien, sondern gab ihnen parlamentarische
Verfassungen. — Das Manchestertum ist heute
in England dem nach außen gerichteten Imperia-
lismus gewichen. Dieser neubritische Imperialis=
mus unterscheidet sich von den früheren Welt-
herrschaftsbestrebungen Englands dadurch, daß er
auf demokratischer Grundlage ruht. Er ist hier-
durch ebenso scharf vom merkantilistischen Zeit-
alter geschieden wie von dem aristokratischen Par-
lamentarismus des 18. Jahrhunderts. Der Vater
der imperialistischen Gedankenwelt ist Carlyle
(1795/1881), der die Nation über den Einzelnen
stellt; nach ihm beruht der nationale Zusammen-
hang nicht auf Berechnung von Gewinn und Ver-
lust, sondern auf der Gemeinsamkeit der Sprache,
Geschichte, Kulturideale, auf Gefühl und Willen.
Die stärkere Nation habe nicht nur das Recht,
sondern sogar die Pflicht, die schwächeren Völker
teils zu beherrschen teils zu verdrängen. Die
imperialistischen Gedanken wurden weiter aus-
gebaut von dem Schriftsteller und Staatsmann
Disraeli und von dem englischen Staatsmann
W. E. Forster, der die Vereinigung zwischen
England und seinen zur Selbstregierung empor-
gestiegenen Siedlungskolonien als um so dauer-
hafter bezeichnete, wenn das Mutterland die Ko-
lonien nicht mehr als Dependenzen behandle,
sondern sie zur Teilnahme an einem mächtigen
und gemeinsamen Reiche einlade. Entscheidend
war auch der Umschwung an den englischen Uni-
versitäten. Hier sind es vor allem die Vorlesungen
Seeleys über die „Ausdehnung Englands“,
die dann eine umfassende imperialistische Literatur
erzeugte. Der neuere Imperialismus in England
scheidet zwischen europäerfähigen Siedlungskolo-
nien und tropischen oder subtropischen Herrschafts-
gebieten und legt allen Nachdruck auf jene. Eng-
land und seine drei großen Siedlungsgebiete
Australien, Kanada, Südafrika und etwa noch