Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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zwar besonders durch Ubertragung der Gefangenen- 
aufsicht an die nach seinen Grundsätzen ausgebildete 
Brüderschaft. Bei diesem Gedanken hatte er aber 
nicht hinlänglich die Schwierigkeiten geschätzt, die 
einer so trefflichen Idee durch die staatliche Bureau- 
kratie entgegengesetzt würden — sein Plan scheiterte 
an dem Widerstand der staatlichen Beamten. Da- 
gegen hatte er in den Kriegen 1864, 1866, 
1870/71 die Genugtuung, die von ihm eingerichtete 
Felddiakonie zur Verpflegung der Kranken und 
Verwundeten ausgezeichnete Dienste dem Vater- 
lande leisten zu sehen. Mit dem Jahre 1870 war 
jedoch seine Hauptkraft gebrochen, dazu kamen 
Todesfälle in der Familie, die sein Gemütsleben 
aufs tiefste erschütterten, ebenso Enttäuschungen 
durch Schwierigkeiten in seiner amtlichen Stellung 
infolge veränderter Kirchenpolitik, und so entschloß 
er sich, seinen Abschied aus seinen staatlichen Amtern 
zu nehmen. Die ihm noch gebliebene Arbeitskraft 
widmete er nun wieder ungeteilt dem Rauhen Hause, 
dessen eigentliche Leitung er 1873 seinem Sohne 
Johannes übertrug. Am 7. April 1881 starb der 
ausgezeichnete Mann, nachdem er in den letzten 
sieben Jahren durch schwere körperliche Leiden 
heimgesucht worden war. Seine „Gesammelten 
Schriften“, welche in der Agentur des Rauhen 
Hauses in den Jahren 1901 bis 1908 in 6 Bänden 
erschienen sind, bieten über die Fragen 1) der 
Fürsorgeerziehung und Verbrechensvorbeugung in 
Rettungshäusern, 2) Organisation der Gefäng- 
nisse, 3) Fürsorge für entlassene Gefangene und 
Rückfallverhütung, 4) die Ausbildung berufs- 
mäßiger Charitashelfer, 5) zusammenfassende Or- 
ganisation der gesamten Werke zur Bekämpfung 
der modernen Notstände ein reiches und inter- 
essantes Material. 
Der Begriff der „innern Mission“ hat ver- 
schiedene Fassungen im Laufe der Zeit erlebt. 
Der zugrunde liegende Gedanke des Zentralaus- 
schusses wird wohl dahin zu fixieren sein, daß 
nicht einzelne, zufällige Wohltätigkeitsakte und 
die den Geistlichen berufsmäßig vorgezeichnete 
Seelsorgetätigkeit im engeren Sinne des Wortes 
für die Belebung christlicher Gesinnung und die 
Betätigung liebender Fürsorge allein ausreichen, 
sondern daß es im Anschluß an die organisierten 
christlichen Religionsgemeinschaften zielbewußt und 
zweckmäßig eingerichteter Veranstaltungen auf 
allen Gebieten und gegenüber allen Schäden, 
welche sich im heutigen Volksleben zeigen, be- 
darf durch Anwendung des alten christ- 
lichen Prinzips der wohlwollenden 
Liebe auf die Probleme der Gegen- 
wart in systematisch gestalteter Form 
unter allseitiger Mitwirkung von 
Geistlichen und Laien. Wollen wir ver- 
suchen, einen Briff der „innern Mission“ zu ge- 
winnen, so könnte man sagen, die innere Mission 
sei der systematische Versuch, durch freiwillige, 
innerkirchliche Tätigkeit die entchristlichten Volks- 
kreise mittels Verkündigung des Wortes Gottes 
Innere Mission. 
  
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in Verbindung mit der Ausübung werktätiger 
Nächstenliebe der Kirche zurückzugewinnen. Der 
Begriff knüpft an denjenigen einer Religions= 
gemeinschaft als einer „sichtbaren, rechtlich ver- 
faßten und organisierten Kirche" im Gegensatze zu 
der „unsichtbaren geistlichen Gemeinde Christi“ 
an und stellt die Ausübung der Liebestätigkeit als 
eine Gehilfin der ordentlichen Seelsorge dar. Es 
ist die innere Mission von der berufsmäßig vor- 
gezeichneten Amtstätigkeit der Geistlichen ebenso 
zu unterscheiden wie von der Liebestätigkeit anderer 
Religionsgesellschaften, der äußeren Mission an 
den Nichtchristen, der sozialen Fürsorgetätigkeit 
des Staates oder der Gesellschaft im allgemeinen 
und dem ganzen Gebiete der humanitären Wohl- 
tätigkeit und Wohlfahrtspflege. Die innere Mis- 
sion will sich ausschließlich mit den eigenen Kon- 
fessionsgenossen befassen, die dem kirchlichen Leben 
entfremdet sind und „nicht durch die gewöhnliche 
Seelsorgetätigkeit erreicht werden können“. So 
bezeichnet Wichern die innere Mission als „die 
gesamte Arbeit der aus dem Glauben an Christus 
geborenen Liebe, welche diejenigen Massen in der 
Christenheit (evangelischen Bekenntnisses) innerlich 
und äußerlich erneuern will, die der Macht und 
Herrschaft des aus der Sünde direkt oder indirekt 
entspringenden mannigfachen äußeren und innern 
Verderbens anheimgefallen sind, ohne daß sie, so 
wie es zu ihrer christlichen Erneuerung nötig wäre, 
von den jedesmaligen geordnetenchristlichen Amtern 
erreicht werden“. Wurster bestimmt den Begriff 
in folgender Weise: „Innere Mission ist eine kirch- 
liche Reformbewegung der letzten hundert Jahre, 
sofern sie die planmäßigen Bestrebungen 
lebendiger evangelisch-kirchlicher Kräfte darstellt, 
den in letzter Linie sittlich-religiösen Notständen 
der Gesellschaft und des Gemeindelebens im evan- 
gelischen Volke, zu deren Linderung und Beseiti- 
gung die berufenen Faktoren: Familie, Kirche, 
Staat, nicht ausreichen, auf dem Wege freier 
Vereinigung entgegenzuwirken, mit dem aus- 
drücklichen Zwecke, die von ihr Gewonnenen zur 
Kirche zurückzuführen und durch ihr Wirken im 
ganzen die vorhandene Kirche zu einer wahren 
Volkskirche auszugestalten“, während Schäfer 
sagt: „Die innere Mission ist diejenige kirchliche Re- 
sormbewegung des 19. Jahrh., welche den innern 
Zustand der Kirche dadurch zu verbessern unter- 
nimmt, daß sie sowohl die freie Verkündigung 
des Evangeliums als auch die Werke der Barm- 
herzigkeit dem Leben der Kirche gliedlich und 
dauernd einfügen und in ihr wirksam machen will.“ 
Zur Durchführung der eigentlichen Ziele der 
innern Mission gibt es bestimmte Berufs- 
arbeiter, welche, im Solde der gemeinsamen 
Sache stehend, ihre ganze Lebenstätigkeit derselben 
widmen, und Freunde der guten Sache, welche 
neben ihrem bürgerlichen Lebensberufe sich der 
Förderung von Liebeswerken zur Verfügung stellen. 
Der Zentralausschuß stellt sich folgende drei Auf- 
gaben: 1) Förderung der bereits vorhandenen
	        
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