Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1385 
dahin ging, das seit Einführung der Gewerbe- 
freiheit nur noch auf fakultativer Grundlage be- 
ruhende Innungswesen wieder aufleben zu lassen. 
Es wurde den Innungen der Charakter öffentlich- 
rechtlicher Korporationen verliehen, denen mit 
Genehmigung der höheren Staatsbehörden fol- 
gende Aufgaben überwiesen werden konnten: 1) all- 
gemeine Reglung des Lehrlingswesens auch für 
die bei nicht einer Innung angehörenden Meistern 
beschäftigten Lehrlinge, 2) Reglung der Streitig- 
keiten über Lehrlingsverhältnisse und 3) Heran- 
ziehung auch der Nichtinnungsmeister zu gewissen 
Kosten der Innung, wie für das Herbergswesen 
und die Schiedsgerichte sowie für Einrichtungen 
zur gewerblichen und technischen Ausbildung der 
Gesellen und Lehrlinge. Die aus diesen Befugnissen 
hervorgegangenen Einrichtungen, namentlich die 
Innungsschiedsgerichte, haben sich nicht bewährt, 
zum Teil infolge ihrer geringen Bedeutung, zum 
andern Teil infolge des sehr schwach fluktuierenden 
Innungslebens, das an der Gleichgültigkeit der 
Innungsmitglieder strandete. — Eine über die 
Tätigkeit und Entwicklung der Innungen an- 
gestellte Enquete ergab außerordentlich ungünstige 
Resultate. Während aus den erhobenen Beiträgen 
für die eigentlichen Innungszwecke nur ganz un- 
verhältnismäßig geringe Ausgaben gemacht wur- 
den, waren dagegen die Aufwendungen für andere 
Zwecke, wie Besoldungen, Festlichkeiten usw., un- 
gebührlich hohe (vgl. Statistik von Papst, Statist. 
Jahrb. deutscher Städte VI 144 ff). Das einzige, 
was verschiedene Innungen geschaffen hatten und 
was ihnen als besonderes Verdienst anzurechnen 
ist, war die Einführung von Verbandspapieren, 
wodurch eine Besserung des Legitimationswesens 
herbeigeführt wurde. — Die Hoffnungen, welche 
die Gesetzgebung von 1881 an die Tätigkeit 
der Innungen knüpfte, um das Handwerk wie- 
der zu heben, sind zumeist nicht in Erfüllung 
g#gangen. Abgesehen von der Kürze der Zeit, 
während welcher die Durchführung des Gesetzes 
bei der großen Gleichgültigkeit der Handwerker 
und bei der Mittellosigkeit der Innungen nicht 
vor sich gehen konnte, waren es vornehmlich die 
materiellen Mängel desselben, welche einer in 
Handwerkerkreisen weit um sich greifenden irrigen 
Agitation die Mittel und Wege boten, das Gesetz 
überhaupt zu diskreditieren und den Handwerkern 
unannehmbar zu machen. Man glaubte, aller- 
dings nicht ganz mit Unrecht, mit einem Gesetze 
nicht arbeiten zu können, das sich lediglich auf der 
freien Willensbetätigung der Handwerker auf- 
bauen solle, und infolgedessen verwarf man das 
ganze Gesetz ohne wesentliche praktische Versuche. 
Die Bedeutungslosigkeit der Innungen trat da- 
durch immer mehr zutage (s. auch Untersuchungen 
des Vereins für Sozialpolitik); trotzdem wurde 
aber von nicht zu unterschätzender Seite die 
Notwendigkeit der immer wieder von den Hand- 
werkern geforderten obligatorischen Innung ver- 
worfen. 
Innung. 
  
1386 
3. Anders gestaltete sich jedoch die Entwicklung 
seit Einführung des oben erwähnten Gesetzes vom 
26. Juli 1897. Um diese klarzustellen, muß vor- 
her der heutige, d. i. der seit 1897 geltende 
Rechtszustand und die Aufgaben der Innung 
nach diesem Recht dargestellt werden. Der ständige 
Niedergang des Handwerks und die darüber ge- 
führten lebhaften Klagen des gesamten Standes 
veranlaßten die Reichsregierung im Jahre 1895 
zu neuen Erhebungen über die Frage, ob es mög- 
lich sei, auf Grund der noch vorhandenen örtlichen 
Stärke und Gruppierung des Handwerks diesem 
eine seinen Wünschen entsprechende, leistungs- 
fähigere Organisation als die seitherige fakulta- 
tive Innung (obligatorische bzw. Zwangsinnung) 
zu geben. Diese Erhebungen wurden in 37 aus- 
gewählten Kreisen bzw. Distrikten, die ½2 aller 
vorhandenen Kreise bzw. ½6 des Umfanges des 
ganzen Deutschen Reiches ausmachten, angestellt; 
das Ergebnis derselben war aber insofern kein 
allen Wünschen des Handwerks entsprechendes, als 
die daraus hervorgegangene Novelle zur Gewerbe- 
ordnung vom 26. Juli 1907 davon Abstand 
nehmen mußte, einen allgemeinen Zwang zum 
Beitritt in die Innung auszusprechen. Wenn 
dies geschehen wäre, so würden vielerorts infolge 
des Mangels an numerischer Stärke nicht lebens- 
fähige Innungen von weniger als fünf Hand- 
werkern entstanden sein, deren Wirksamkeit gleich 
Null gewesen wäre. Das Gesetz hat daher ein 
Auskunftsmittel dadurch geschaffen, daß es ein 
neues Moment in die Gewerbeordnung hinein- 
getragen hat, indem es fakultative Zwangs- 
innungen schuf, deren Einrichtung den Hand- 
werkern eines Verwaltungsbezirks überlassen bleibt. 
Wenn die Mehrzahl der Handwerker des gleichen 
oder verwandter Gewerbe zu einer Innung zu- 
sammentreten will, so kann sie nunmehr die wider- 
strebende Minderheit durch einen unter der Aussicht 
der zuständigen Verwaltungsbehörde gefaßten Be- 
chluß zum Beitritt in die Zwangsinnung ver- 
anlassen, vorausgesetzt, daß letztere lebens= und 
leistungsfähig ist, was die höhere Verwaltungs- 
behörde nach allgemeinen Gesichtspunkten zu ent- 
scheiden und demgemäß ihre Genehmigung zur 
Bildung der Innung zu erteilen oder zu versagen 
hat. Beitritts= und beitragspflichtig zu solcher 
Innung sind alle diejenigen Handwerker, welche 
das Gewerbe, für das die Innung errichtet ist, als 
stehendes Gewerbe selbständig betreiben. Streitig- 
keiten über die Beitrittspflicht entscheidet die Auf- 
sichtsbehörde in erster und eventuell in zweiter 
Instanz. Handwerker, die in der Regel weder 
Gesellen noch Lehrlinge beschäftigen, können sta- 
tutengemäß von dem Beitritt freigelassen werden. 
— Zum Schutze der majorisierten Minderheit hat 
das Gesetz gewisse Kautelen geschaffen, wie 1) Ver- 
bot der Erhebung von Eintrittsgeldern, 2) Verbot 
der Festsetzung von Preis und Leistungen, 3) Ver- 
bot gemeinschaftlicher Geschäftsbetriebe, 4) Über- 
wachung des Haushaltungsplanes durch die 
—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.