Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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verlangen, daß die Parteien beim Vertrags- 
abschlusse im Auslande die dort gesetzlich vor- 
geschriebenen Formen ignorieren und dafür die 
Gesetze desjenigen Staates beobachten sollten, in 
welchem später aus vielleicht ganz zufälligen, un- 
vorhergesehenen Gründen der Rechtsstreit um die 
Erfüllung des Vertrages anhängig gemacht wird? 
Eine wichtige Schranke für die Beachtung aus- 
ländischen Rechts bildet bei der prinzipiellen Zu- 
lassung desselben der Grundsatz, daß der Richter 
in keinem Falle Rechtsansprüche durch seine Ent- 
scheidung unmittelbar verwirklichen darf, welche 
nach seinem eigenen Rechte verwerflich sind (z. B. 
Leibeigenschaft, Vielweiberei); Rechtsgeschäfte, 
welche den im Völkerverkehre anerkannten Sitten 
widersprechen, sollen nicht geschützt werden. Es 
ist daher ein ausländischer Rechtssatz von jeder 
Berücksichtigung auszunehmen, wenn seine An- 
wendung ein mit den zwingenden Normen un- 
seres Rechts unvereinbares Ergebnis herbeiführen 
würde. Solche zwingende Normen können auch 
aus politischen oder wirtschaftlichen Interessen ent- 
springen. 
Die geschichtliche Entwicklung des internatio- 
nalen Privatrechts hält zumeist gleichen Schritt 
mit der Weiterbildung der Rechtsstellung der Aus- 
länder überhaupt und des Verhältnisses der ein- 
zelnen Staaten zueinander. Bei dem ausschließ- 
lich nationalen Charakter des Rechts im Altertume 
und der grundsätzlichen Rechtlosigkeit der Fremden 
war kein Raum für Prinzipien, wie sie im vor- 
stehenden geschildert wurden. Das römische ius 
gentium mit seinen eigentümlichen Rechtsinstituten 
war hierin völlig verschieden; die Erteilung des 
Bürgerrechts an alle Einwohner des Weltreiches 
durch Caracalla schuf ein einheitliches Rechtsgebiet 
des ius civile. Im fränkischen Reiche galt das 
System der persönlichen Rechte (lex gentis); jeder 
lebte nach dem Rechte des Stammes, welchem er 
durch Geburt angehörte. Zur Zeit der Rechts- 
bücher herrschte unter dem Einflusse des Lehns- 
rechts das Territorialsystem (lex terrae), d. h. 
der Grundsatz, daß in einem Rechtsgebiete auch 
nur das Recht dieses Gebietes selbst zur Anwen- 
dung gelangen dürfe. Im Anschluß an diese beiden 
Systeme und zu ihrer Vereinigung wurde gegen 
Ausgang des Mittelalters von den italienischen 
Postglossatoren und Juristen die Statuten- 
theorie ausgebildet. Danach gab es statuta 
personalia, Rechtsnormen, betreffend die Ver- 
hältnisse der Person und ihres beweglichen Be- 
sitzes (mobilia personam sequuntur, mobilia 
ossibus inhaerent), statuta realia, die auf un- 
bewegliche Sachen zielenden Rechtsregeln, und sta- 
tuta mixta, Rechtsvorschriften, welche sich auf die 
Rechtsgeschäfte bezogen. Später nahm man als 
Personalstatut das Recht am Wohnsitze der Person 
(lex domicilül), als Realstatut das Recht am Orte 
der belegenen Sache (lex loci rei sitae), als 
statutum mixtum das Recht am Orte des Ab- 
schlusses des Rechtsgeschäftes, wobei aber auch der 
Internationales Privatrecht. 
  
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Erfüllungsort als maßgebend vertreten wurde. Die 
Statutentheorie ist in die Gesetzgebungen über- 
gegangen, welche am Ende des 18. und am An- 
fange des 19. Jahrh. erfolgten; sie ist aufgenommen 
ins preußische Landrecht, in den Code Napoléon 
und ins österreichische Allg. B.G. B. Eine Neue- 
rung brachte die Ansicht von Savigny, es müsse 
bei jedem Rechtsverhältnisse untersucht werden, in 
welchem Rechtsgebiete dasselbe seinen Sitz habe; 
das Recht dieses Gebietes solle Anwendung finden. 
Der Sit des Rechtsverhältnisses liege in Status- 
fragen und im Erbrecht-im Domizil, bei unbeweg- 
lichen Sachen in deren räumlicher Lage, bei For- 
derungen im Erfüllungsorte. Dieser Theorie, 
welche in Deutschland die meisten Anhänger zählte, 
hat die neuere französisch-italienische Schule (schon 
Mancini) das Prinzip der Nationalität lex pa- 
triae) gegenübergestellt, wonach die Staats- 
angehörigkeit (Indigenat) entscheiden soll; 
aus der Gleichberechtigung aller Staaten folge, 
daß jeder die Untertanen eines andern mit ihrem 
einheimischen Rechte aufnehme. Das Moment der 
Nationalität ist teilweise im sächsischen Gesetzbuche 
anerkannt; auch die deutsche Reichsgesetzgebung 
hat dasselbe in mehrfachen Materien berücksichtigt; 
die Theorie macht zu seinen Gunsten namentlich 
geltend, daß der Wohnsitz mehr einem Wechsel 
unterworfen sei als die Staatsangehörigkeit, folg- 
lich die persönlichen Rechte am sichersten eine 
dauernde Normierung in der Anwendung des 
Staatsangehörigkeitsprinzipes finden. 
Liegt nun ein Rechtsverhältnis vor, welches 
an sich beim Widerstreite der verschiedenen Gesetz- 
gebungen mit Bezug auf die beteiligten Personen 
oder auf die im Streite befangene Sache Zweifel 
darüber zuläßt, welches der widersprechenden Rechte 
anzuwenden fei, so hat der Richter vor allem zu 
untersuchen, ob überhaupt die einheimische Gesetz- 
gebung die Anwendung ausländischen Rechts ge- 
stattet; ist dies der Fall, so ist der Konflikt zunächst 
nach den Vorschriften des einheimischen Rechts zu 
lösen, sei es, daß ein Gesetz oder ein Staatsvertrag 
oder ein Gewohnheitsrecht die maßgebende Norm 
dafür bietet. Besteht eine derartige Bestimmung 
nicht, so entscheiden endlich die allgemeinen Grund- 
sätze des internationalen Privatrechts, wie sie in 
der Theorie sich entwickelten und in der Praxis 
anerkannt sind. Von einem Parteiantrage ist übri- 
gens die Anwendung des ausländischen Rechts in 
einem dazu geeigneten Falle nicht abhängig zu 
machen; auch gibt es keine Beweislast für die 
Partei, welche sich auf das auswärtige Recht be- 
ruft; sie hat jedoch den Richter im eigenen Inter- 
esse auf eine bestehende Singularität desselben auf- 
merksam zu machen und ihn bei der Ermittlung 
derselben zu unterstützen; denn der Satz iura no- 
vit curia hat nur in bezug auf die einheimischen 
Rechtssätze volle Geltung. 
Rechtsquelle des internationalen Privatrechts, 
soweit die freie Theorie in Frage steht, ist prin- 
zipiell die Natur der Sache; es darf bei Be- 
 
	        
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