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reich 1849. Im Falle eines Vertrags ist ein Rechts-
anspruch des Intervenienten zur Duldung der
Einmischung begründet, doch ist die Unterlassung
der Intervention keine Verletzung einer Rechts-
pflicht, sie kann aber Gefährdung der Rechtsord-
nung, ja der eigenen Existenz bedeuten. Pflichten
legt die durch eine Vereinigung souveräner Staaten
geschaffene Rechtsgenossenschaft durch ihre Ent-
stehung und ihren Bestand allein nicht auf. Aller-
dings kann in bestimmten Fällen eine solche all-
gemeine Interventions pflicht der internationalen
Rechtsordnung sehr von Nutzen sein. Aber die
Schaffung einer Autorität, welche diese Pflicht
ebentuell zu erzwingen hätte, würde die Einzel-
souveränität aufheben.
Ein anderer Grund zur Intervention ist der Fall
des Notstands. Hier übt der Staat durch die Inter-
vention Selbsthilfe aus. Auf die Einmischung in
die Angelegenheiten eines andern Staates zur Ab-
wendung von Gefährdungen eigener Interessen
durch ein formal berechtigtes Verhalten eines andern
Staates innerhalb seiner Souveränitätsrechte haben
die Staaten nie verzichtet. Die chinesischen Wirren
haben 1900 zu einer Intervention von noch nicht
dagewesenem Umfange, einer Kollektivintervention
der europäischen Mächte in Verbindung mit Nord-
amerika und Japan geführt.
Die Meinungen über die Zulässigkeit der Inter-
vention und ihre Schranken sind in der Wissen-
schaft geteilt, in der Praxis vielfach wechselnd.
Die Berechtigung ist nach allgemeiner Ansicht
nicht zu bezweifeln, wenn ein rechtmäßiger Gebiets-
zuwachs dem vergrößerten Staate eine Übermacht
verschafft, durch welche andere Staaten ernstlich
bedroht werden, oder wenn eine Verletzung von
Verträgen vorliegt, welche allgemein verbindliche
Völkerrechtsgrundsätze in sich schließen. Sie fußt
in der Überzeugung, daß die Intervention not-
wendig ist, um einer Gemeingefahr — Verrückung
des europäischen Gleichgewichts — dder einer Be-
drohung eigener Interessen zu begegnen, und macht
sie in demselben Maße legitim, als es ein Krieg
wäre. Wo es sich um Einmischung in die inneren
Angelegenheiten handelt, ist die Intervention nur
dann statthaft, wenn ein höheres Recht als die
Autonomie des betreffenden Staates verletzt wird,
z. B. wenn Vorgänge in einem Staate die Sicher-
heit des andern beeinträchtigen. Denn das Recht
der Autonomie darf nach völkerrechtlichem Grund-
satz nie andere schädigen; doch müssen ganz be-
stimmte, qualifizierte Interessen verletzt sein. Dif-
ferentielle nachteilige Behandlung, Verweigerung
von Vorteilen gegenüber einem andern Staat mag
diesen zur „Retorsion“ berechtigen; eine Inter-
vention wäre aber in diesen Fällen eine unberechtigte,
willkürliche, wie sie zwar nicht selten vorgekommen,
aber erfahrungsgemäß von übeln Folgen gewesen
ist. Von diesen allgemeinen Grundsätzen aus ist
zweifellos unberechtigt die Anmaßung eines fort-
gesetzten, dauernden, nicht zeitlich beschränkten
Interventionsrechts (so die Garantie Osterreichs,
Intervention.
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Rußlands und Preußens für die polnischen Gebiete
1773;, sie führte zu steten weiteren Einmischungen
und zum Untergang Polens). Die Garantie des
Deutschen Bundes durch die Wiener Kongreß-
akte, der zufolge Frankreich und England 1851
gegen den Eintritt Gesamt-Osterreichs in den Deut-
chen Bund protestierten wegen Verrückung des
europäüschen Gleichgewichts, würde heute nicht mehr
zugelassen. Solche an sich unberechtigten Garantien
erwiesen sich meist als wirkungslos; so vermochte
die Garantie Englands, Frankreichs und Rußlands
von 1832 für die Unabhängigkeit Griechenlands
die Vertreibung des Königs Otto (1862) ebenso-
wenig zu verhindern, als der von den Mächten 1815
vereinbarte Ausschluß der Napoleonischen Familie
von der Herrschaft über Frankreich der Thronbestei-
gung Louis Napoleons irgendwie entgegenstand.
Unzulässig ist ferner, und zwar wegen des Prin-
zips der Autonomie, eine Intervention wegen einer
in der Regierungsform eines Staates oder in irgend
welchen dort geltenden Gesetzen für andere Staaten
angeblich liegenden Gefahr, solange nicht aggressive
Propaganda gemacht wird, gegen welche einfache
Vorsichtsmaßregeln nicht ausreichen.
Als unzulässig wird weiter die Intervention
erachtet zum Schutz der in einem andern Staate
religiös bedrückten Untertanen (solange nicht eine
förmliche Verfolgung vorliegt) oder zum Schutz
von Untertanen, die mit jenen des andern Staates
durch gleiche Nationalität verbunden sind. Die
religiösen Interessen waren öster Vorwand für
politische Beweggründe. Die nationale Idee ist
zwar wie die religiöse ein mächtiger, staatenbilden-
der Faktor; aber das Christentum kennt keinen
Weltbundesstaat, ihm ist vielmehr die Gleich-
berechtigung der Staaten und die Anerkennung
ihrer nationalen Eigentümlichkeiten zu verdanken.
Das Schutrecht eines jeden Staates beschränkt
sich, von besondern Vereinbarungen abgesehen,
auf seine eigenen Staatsangehörigen (abweichend
die Haltung Griechenlands gegen Kreta 1897).
Ein Einmischungsrecht ist auch nicht gegeben
wegen allgemeiner Interessen der Menschheit oder
der Kultur (Intervention der Vereinigten Staaten
in Kuba 1898). Zweifelhaft kann die Berechtigung
der Intervention sein, um längerem Blutvergießen
und der Anarchie in Bürgerkriegen Einhalt zu tun,
sofern nicht die eigene Sicherheit gefährdet oder
nicht von beiden streitenden Teilen um Hilfe ge-
beten ist (zweite und dritte Teilung Polens, einer
der dunkeln Punkte im Völkerrecht, Vertrag zwi-
schen Frankreich, England und Rußland pour
la pacification de la Grece vom 6. Juli 1827).
Berechtigt erscheint, wie bemerkt, die Inter-
vention, außer bei Bedrohung eigener Sicherheit,
bei wirklicher Bedrohung des Gleichgewichts der
Staaten; dieser Gefahr einer Weltherrschafts-
stellung wird am besten durch Kollektivintervention
begegnet. Von diesem Gesichtspunkte aus haben
die Großmächte die Schweiz, Belgien und Luxem-
burg als neutrale Gebiete erklärt. Einen Miß-
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