Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1439 
brauch dieses berechtigten Grundsatzes bildete die 
Absicht Frankreichs, 1862 in Mexiko politisches, 
nationales und kommerzielles Gleichgewicht herzu- 
stellen gegenüber den Vereinigten Staaten. 
Anders als nach obigen Grundsätzen ist zu be- 
urteilen die Intervention zivilisierter Staaten 
unzivilisierten gegenüber (Beispiele bieten Frank- 
reich-Algerien, Rußland-Mittelasien, England- 
Indien, Vereinigte Staaten-die Indianer). Das 
Völkerrecht beruht auf Gegenseitigkeit, welche von 
nichtzivilisierten Staaten nicht beachtet wird. 
Ahnlich verhält es sich mit der Intervention 
europäischer Mächte in die Angelegenheiten der 
Türkei infolge des Gegensatzes ihrer religiösen, 
sittlichen und rechtlichen Anschauungen zu der christ- 
lichen Gesittung. Frankreich erwarb sich seit Anfang 
des 16. Jahrh. im Wege von Verträgen, sog. Kapi- 
tulationen, ein Schutzrecht über alle christlichen An- 
gehörigen fremder Nationen in ihr. Dies ahmten 
seit dem 17. Jahrh. die andern europäischen Staa- 
ten nach, jeder für seine Untertanen, bis die Pforte 
im 18. Jahrh. den Schut der christlichen Religion 
in ihrem Gebiete versprach (Vertrag von Karlowitz 
1699, bestätigt im Frieden von Passarowitz 1718, 
im Belgrader Frieden 1739 und im Vertrag von 
Siviskow 1791). Metternich wünschte auf dem 
Wiener Kongreß dringend, die Pforte in das euro- 
päische System aufzunehmen; es gelang nicht. 
Seither ist die Türkei steter Gegenstand europäischer 
Einmischung, besonders seitens Rußlands. Im 
Vertrag von Hunkjar Skelessi 1833 mußte die 
Pforte zusagen, keinem fremden Kriegsschiffe die 
Einfahrt in die Dardanellen zu gestatten. Damit 
übernahm die Pforte die Bürgschaft dafür, daß 
Rußland niemals im Schwarzen Meere angegriffen 
werde, wogegen dieses das Recht erlangte, sich in 
alle inneren Angelegenheiten der Türkei zu mischen, 
wenn die gegenseitige Ruhe und Sicherheit beider 
Staaten berührt scheine. Der Protest Englands 
und Frankreichs führte in gemeinsamer Aktion mit 
Osterreich und Preußen zu den Beschlüssen der 
Wiener Konferenz (1853) und zum Pariser Frie- 
den (1856), der an Stelle des russischen Spezial- 
protektorats über die christlichen Untertanen der 
Türkei ein Kollektivprotektorat festsetzen wollte, 
aber nur für die Donaufürstentümer festsetzte, wie 
das Blutbad vom Libanon 1860 erwies, das zu 
einer Intervention der Mächte führte, die dem 
Pariser Frieden nicht entsprach. 1870 benutzte 
Rußland den deutsch-französischen Krieg, um sich 
von der im Pariser Frieden (1856) bedingungs- 
los übernommenen Verpflichtung der Neutrali- 
sierung des Schwarzen Meeres loszusagen und 
seinen Willen auf der Londoner Konferenz 1871 
durchzusetzen. Erst der Berliner Vertrag 1878 
führte zu einer Rechtsgrundlage der Verhältnisse 
im Orient, indem Bulgarien als autonomes 
Fürstentum unter Suzeränität des Sultans und 
einer christlichen Regierung, Ostrumelien zu einer 
autonomen Provinz unter einem christlichen Statt- 
halter konstituiert ward, Bosnien und die Hercego- 
Intervention. 
  
1440 
vina von OÖsterreich besetzt und verwaltet werden 
sollten, Montenegro, Serbien und Rumänien un- 
abhängig wurden, allgemeine, volle Gleichheit 
aller religiösen Bekenntnisse, volle Religions= und 
Kultusfreiheit in der Türkei selbst bedungen ward. 
Damit ist, im Gegensatz zum Pariser Frieden, 
kein Kollektivprotektorat, sondern ein kollektives 
Interventionsrecht (die Zukunftsform der Inter- 
vention überhaupt) in innere Angelegenheiten der 
Türkei bezüglich der armenischen Provinzen be- 
gründet (Berliner Vertrag Art. 61). Auf diesem 
Artikel beruhte das Einschreiten der Mächte zu- 
gunsten der Armenier im Jahre 1895. 
Das Einschreiten staatenbündischer oder bun- 
desstaatlicher Zentralorgane aus staatsrechtlichen 
Gründen ist nicht Intervention, sondern Exekution. 
Das Interventionsbegehren wird auf diplo- 
matischem Wege gestellt. Die Interventions- 
zwangsmittel sind die Besetzung fremden Staats- 
gebietes, die Friedensblockade und der Krieg. Zweck 
der Intervention ist die Beseitigung einer Gefahr 
oder eines Schadens, nicht der Ersatz eines durch 
völkerrechtswidriges Verhalten verschuldeten Scha- 
dens. Doch sind auch mit dem Interventions- 
begehren zuweilen Entschädigungsforderungen für 
den Fall verbunden, daß ihm nicht entsprochen 
wird. 
Die privatrechtliche Intervention finden 
wir im Gerichtsverfahren in bürgerlichen Rechts- 
streitigkeiten und im Wechselrecht. Die Inter- 
zession ist eine Bürgschaft des römischen Rechts. 
Die Zivilprozeßordnung des Deutschen Reiches 
bestimmt in den §§ 64 ff: „Wer die Sache oder 
das Recht, worüber zwischen andern Personen 
ein Rechtsstreit anhängig geworden ist, ganz oder 
teilweise für sich in Anspruch nimmt, ist bis zur 
rechtskräftigen Entscheidung dieses Rechtsstreites 
berechtigt, seinen Anspruch durch eine gegen beide 
Parteien gerichtete Klage bei demselben Gerichte 
geltend zu mächen, vor welchem der Rechtsstreit 
in erster Instanz anhängig wurde (Hauptinter- 
vention). Wer ein rechtliches Interesse daran hat, 
daß in einem zwischen andern Personen anhängigen 
Rechtsstreite die eine Partei obsiege (insbesondere 
der dritte, welchem von einer Partei der Streit 
verkündet ist), kann dieser Partei zum Zweck ihrer 
Unterstützung in jeder Lage des Rechtsstreites bis 
zur rechtskräftigen Entscheidung beitreten (Neben- 
intervention).“ Die Wechselordnung für das 
Deutsche Reich bestimmt in den Art. 56 ff, daß 
die Intervention stattfindet, indem jemand, sei er 
auf dem Wechsel als Notadressat genannt oder 
nicht, einen mangels Annahme protestierten Wech- 
sel annimmt (Ehrenakzeptant) oder einen mangels 
Zahlung protestierten Wechsel, auch ohne solchen 
akzeptiert zu haben, bezahlt (Ehrenzahler). 
Literatur. Strauch, Zur J.slehre (1879); 
Heilborn in Holtzendorffs Enzyklopädie der Rechts- 
wissenschaft II ((61904) 1054; Liszt, Völkerrecht 
(51907); v. Ullmann, Völkerrecht (21908) 459 ff. 
lv. Buol-Berenberg, rev. Spahn.)
	        
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