Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1449 
Zeit nach dem (protestantischen) Wittenberger Pro- 
fessor Schröckh gelesen. Als das Werk des Wiener 
Professors Dannenmaier an dessen Stelle trat, 
merkte man keinen Unterschied der Auffassung. 
Dogmatik, Moral und Pastoral waren voll Läste- 
rungen gegen Rom, die Mönche usw. Rieggers 
Lehrbuch des kanonischen Rechtes wich zwar 1784 
Pehems Praelectiones in ius ecclesiasticum 
universum. Allein Pehem ging in vielen Punkten 
sogar noch weiter als Febronius. Dem Papste er- 
kannte er einen Jurisdiktionsprimat zu, aber nur 
dem Namen nach. Das Vetorecht (placetum re- 
gium) in allen nicht dogmatischen Fragen schrieb 
er dem Staate unbedenklich zu, so daß kein Erlaß 
der Kirchenoberen ohne landesherrliche Genehmi- 
gung Geltung habe. Den Zusammenhang der in- 
ländischen Kirche mit der ausländischen möglichst 
zu beschränken, ist gleichfalls dem Fürsten über- 
lassen usp. Dieses Werk Pehems, obwohl gleich- 
falls von Rom zensuriert, blieb bis 1810 das 
ausschließliche Lehrbuch des kanonischen Rechtes. 
Wie aus dem Vorstehenden hervorgeht, dauerte 
der Josephinismus auch nach Kaiser Josephs Tode 
(1790) noch fort und besteht, vom Konkordate 
(1855/70) kaum unterbrochen, in einem gewissen 
Sinne noch heute. Allerdings hieß es im Mo- 
tivenberichte zu dem Gesetze vom 7. Mai 
1874: „Der Josephinismus taugt heutzutage 
ebensowenig als Prinzip des Staatskirchenrechts, 
wie seine Grundlage, der sog. aufgeklärte Ab- 
solutismus, als allgemeines Regierungsprinzip 
taugen würde. Es würde allen herrschenden poli- 
tischen Grundsätzen widersprechen, die Kirche als 
Mittel zur Erreichung des Staatszweckes zu be- 
handeln. In dem modernen Rechtsstaate ist jede 
individuelle Entwicklung grundsätzlich frei und 
nur ausnahmsweise beschränkt; in dem josephi- 
nischen Staate verhielt es sich gerade umgekehrt. 
Der Josephinismus hindert, weil er die Kirche 
als Staatsanstalt behandelt, nicht die beständige 
Vermischung der politischen und kirchlichen Auf- 
gaben.. Die heutige politische Auffassung er- 
kennt im Staate keine andere Souveränität an als 
die des Staates, sie zählt auch die Kirche nur zu 
den Lebenskreisen der Individuen, sie erkennt ihr 
Freiheit auf dem besondern, eigenen Gebiete, aber 
keine vom Staate unabhängige Macht zu (1!). Der 
Anschauung, daß die Kirche auf ihrem Gebiete 
ebenso souverän sei wie der Staat auf dem seinen, 
kann übrigens heute weniger als je beigepflichtet 
werden, da sich die übergreifenden Tendenzen 
und bedenklichen Konsequenzen dieser Anschauung 
eben in den Beschlüssen des letzten Vatikanischen 
Konzils deutlich enthüllt haben.“ Im weiteren zeigt 
der Verfasser des Motivenberichts, daß zu allen 
Zeiten zwischen Kirche und Staat Streit über die 
Grenzlinien ihres beiderseitigen Gebietes geherrscht 
und daß jede Seite die andere auf Verletzung an- 
geklagt habe. Dem ließe sich nur dadurch abhelfen, 
daß endlich der Staat diese Grenze bestimme und 
unverrückt festhalte: kirchliches Gebiet ist, was der 
Josephinismus. 
  
1450 
Staat als solches anerkennt. Das ist nicht viel. 
Es ist das sog. innere Gebiet. „Es versteht sich 
von selbst, daß das Glaubens= und Gewissensgebiet 
und die Art der Gottesverehrung keinen Gegen- 
stand staatlicher Normierung abgeben kann.“ Aus 
diesen anscheinend der Religion günstigen Worten 
darf man keine zu weiten Konsequenzen ziehen. 
Denn immer bleibt dem Staate das Recht, die 
Anerkennung einer Konfession zu geben oder zu 
verweigern bzw. zurückzunehmen. „Die Regierung 
ist von der Ansicht ausgegangen, daß die Ab- 
scheidung der innern und äußern Angelegenheiten 
nur dem Staate zustehe. Formell ist die innere 
und äußere Angelegenheit das, was der Staat hier- 
für erklärt.“ 
Während der Motivenbericht nach einer oben 
berührten Stelle es als charakteristisch josephinisch 
bezeichnet, „die Kirche als Mittel zur Erreichung 
des Staatszweckes zu gebrauchen", nimmt er doch 
an anderer Stelle nicht im mindesten Anstand, die 
katholische Kirche in den Dienst des Staates zu 
stellen. Er sagt: „Der Staat erkennt an, daß ihr 
(d. i. der katholischen Kirche) Bestand und Zweck 
von öffentlichem Nutzen ist, und daß sie deshalb 
auf besondere Vorzüge (besondere Verbindung mit 
dem öffentlichen Wesen) Anspruch hat.“ Und 
wiederum: „Endlich muß hervorgehoben werden, 
daß bei den dermaligen Verhältnissen die Mit- 
wirkung der Kirchenvorsteher für Zwecke der öffent- 
lichen Verwaltung schlechterdings nicht entbehrt 
werden kann.“ Auf den angeführten Anschauungen 
basieren die Gesetze vom 7. Mai 1874 über die 
äußern Rechtsverhältnisse der katholischen Kirche, 
durch deren Art. 1 das Konkordat formell auf- 
gehoben wurde. 
Josephinismus, Staatskirchentum, oder wie 
immer man dieselbe Sache benennen mag, hat der 
christlichen Religion mehr geschadet als das 
Schwert der heidnischen Imperatoren. Die im 
Schatten des Staates wandelnde Kirche ist, wenn 
sie dort noch so viele Gefälligkeiten findet, ins- 
besondere heute ungeeignet, im sozialen Klassen- 
kampfe zu intervenieren. Die Vertreter einer 
Staatskirche werden den Vertretern des Staates 
keine Hilfe bringen können. Ist ja doch heute be- 
reits das Schlagwort: Bourgeoisstaat, Bourgeois- 
regierung, Bourgeoisreligion, ausgegeben. Die 
Sozialdemokratie haßt unsere Kirche vorzüglich 
darum, weil sie dieselbe als eine staatliche Ein- 
richtung zur Niederhaltung der Massen betrachtet. 
Daß die liberale Bureaukratie einer josephinischen 
Kirche hold ist, macht die Sache noch schlechter. 
Literatur. Entwurf zur Einrichtung der 
Generalseminarien in den k. k. Erblanden (1784); 
Beidtel, Untersuchungen über die kirchl. Zustände 
in den kais. österr. Staaten (1849); Josephinische 
Curiosa (1848/50); Ottokar Lorenz, Joseph II. u. 
die belg. Revolution (1862); Karajan, Maria 
Theresia u. Joseph II. (1865); Adam Wolf, Öster- 
reich unter Maria Theresia (1855); derf., Die 
Aufhebung der Klöster in Innerösterreich (1871); 
K. Ritter, Kaiser Joseph II. u. seine kirchl. Re-
	        
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