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Klagen laut werden. Die „reine, herbe Moral“
der Propheten versengte wie „trockener Wüstenwind
die Blüten der Fäulnis“ (Chamberlain, Grund-
lagen des 19. Jahrh. [1900] 342, 421).
Neben dem Verfalle der Sitten ging ein äußer-
licher Glanz einher, der in dem Luxus der Reichen
zum Ausdrucke kam. Eine grob materialistische
Genußsucht griff um sich, die keine edleren Freuden
als die Genüsse der Tafel, der Ausschweifung in
Trunksucht und Unzucht kannte. Mit plastischer
Anschaulichkeit haben die Propheten die Entartung
in den begüterten Kreisen Israels geschildert, mit
furchtbaren Zügen besonders den gänzlichen Ver-
fall des Familienlebens und die Nichtachtung der
Heiligkeit der Ehe gezeichnet.
Diesen Mißständen gegenüber suchen die Pro-
pheten das Volk wieder sittlich und damit auch
sozial zu regenerieren. Ihre Reformideen bezwecken
eine Rückkehr zur ehemaligen Einfachheit der Sitten
und eine Erneuerung des Mittelstandes. Sie ver-
künden in zahllosen Variationen die große Wahr-
heit, daß auch das Gebiet des Wirtschaftslebens
nicht außerhalb der sittlichen Ordnung liege, und
daß der ungebändigte Egoismus nicht die Trieb-
feder der Volkswirtschaft sein dürfe. ç
Freilich vermochten die Propheten mit ihren
Reformbestrebungen nicht durchzudringen, und so
trieb die Entwicklung rasch auf abschüssiger Bahn
dahin. Die schlimme Saat reifte der Ernte ent-
gegen. Die reichen Latifundienbesitzer hatten auch
das politische Ubergewicht in den Händen, eine
Adelsherrschaft schlimmster Art unterwühlte die
beiden Reiche, die ohnehin wie Puffer zwischen den
Großmächten Agypten und Assyrien eingezwängt
waren. Das Intrigenspiel dieser Geldaristo-
kratie, ihre geheimen Machenschaften und Ver-
bindungen mit auswärtigen Mächten haben viel
dazu beigetragen, die Politik des jüdischen Staates
in falsche, verderbliche Bahnen zu lenken und
die entsetzlichen Katastrophen heraufzubeschwören.
Diese „Fürsten“, gegen die das Zorneswort der
Propheten sich so häufig wendet, „führten das
große Wort, entschieden die wichtigsten Staats-
angelegenheiten, rissen das Gerichtswesen an sich
und verdunkelten allmählich das Haus Davids so
vollständig, daß es zum Schattenkönigtume herab-
sank“ (Graetz, Gesch. der Juden II 2). Sie waren
der Krebsschaden, der an dem israelitischen Staats-
organismus fraß. Im Nordreiche waren die Mili-
tärrevolutionen an der Tagesordnung. Innerhalb
dritthalbhundert Jahren kamen nicht weniger als
neun Dynastien ans Ruder, die in der richtigen
Erkenntnis der Unsicherheit ihres Glückes alles
taten, um den Vorteil des Augenblickes möglichst
auszunutzen. Jede dieser Herrscherfamilien, die
über die Leichen ihrer Vorgänger hinweg den
Thron bestiegen, fühlte instinktiv die Unsicherheit
ihrer Stellung, und so kam das Land, von einem
Tyrannen befreit, unter einen andern.
Bei dieser entsetzlichen Korruption und der da-
mit Schritt haltenden Verarmung des Volkes war
Israeliten.
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der Untergang beider Reiche nur eine Frage der
Zeit. Das nördliche erlag bereits im Jahre 719
v. Chr. den Assyriern, während das südliche sein
Dasein noch um ein Jahrhundert länger fristete.
Die Tribute, die dasselbe an Babylon zu ent-
richten hatte, sogen dem Lande das letzte Blut aus
den Adern. Der politische und wirtschaftliche Zer-
fall war endlich soweit gediehen, daß der vollstän-
dige Zusammenbruch des Reiches Juda eintrat
und das Volk in die babylonische Gefangenschaft
geschleppt ward (586). Was zurückblieb, war zu-
meist das Proletariat der Hauptstadt und des
platten Landes. "
Nach der Rückkehr eines Teiles der Verbannten
bzw. ihrer Nachkommen nach Jerusalem im Jahre
538 kann nur mehr von einer jüdischen Ge-
schichte die Rede sein. Das Reich Israel erstand
nie wieder. Aber auch das Reich Juda bildete seit
dem Exil nie mehr eine unabhängige Nation. Die
neue Ansiedlung hatte mit großen Schwierigkeiten
zu kämpfen; Jerusalem erhob sich nur langsam
aus den Trümmern; Landwirtschaft und Handel
erholten sich nur schwer. Es gab weder Verkehr
noch Verdienst; Unsicherheit herrschte im Lande;
der Boden war zum großen Teile der Verwilde-
rung anheimgefallen, so daß sich bald Mißwachs
und Teuerung einstellten (ogl. Zach. 8, 10). Wie
vor dem Exil, benutzten dies die Besitzenden wieder
zu rücksichtsloser Knechtung des Volkes, so daß
Unruhen im Proletariat entstanden. Der biblische
Bericht sagt: „Und es erhob sich ein großes Ge-
schrei des Volkes und ihrer Weiber wider ihre
Brüder, die Juden. Es waren solche, welche sagten:
Unsere Söhne und unsere Töchter sind überaus
viel; wir wollen Getreide für ihren Wert nehmen
und essen, daß wir leben. Und es waren solche,
welche sagten: Wir wollen unsere Acker und Wein-
berge und unsere Häuser verpfänden, um Getreide
zu bekommen in der Hungersnot. Und andere
sprachen: Wir wollen Geld entlehnen zur Steuer
des Königs und unsere Acker und Weinberge hin-
geben. Und nun, wie unserer Brüder Fleisch, so
ist auch unser Fleisch, und wie ihre Söhne, so sind
auch unsere Söhne; siehe, wir unterwerfen unsere
Söhne und unsere Töchter der Dienstbarkeit, und
unserer Töchter etliche sind schon Mägde, und wir
haben nichts, womit sie losgekauft werden könnten,
und unsere Acker und unsere Weinberge besitzen
andere" (2 Esdr. 5, 1 ff). Der Statthalter Nehe-
mias trat mit Strenge gegen die Wucherer auf
und schüchterte sie so ein, daß sie die Zinsen er-
ließen und die Pfandobjekte zurückgaben (2 Esdr.
5, 1 ff). Dank der unerschöpflichen Fruchtbarkeit
des Landes begannen sich die Juden langsam aus
der wirtschaftlichen Depression emporzuarbeiten.
Mit wachsendem Wohlstande stieg auch die Be-
völkerungszahl. Noch zu Nehemias' Zeiten (um
440) war sie sehr schwach, insbesondere war die
Hauptstadt so dünn bevölkert, daß ein Teil der
Landbewohner gezwungen wurde, sich in Jerusa-
lem anzusiedeln. Für Alexander d. Gr. und seine