Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1463 
Nachfolger war das Judenland eine unerschöpf- 
liche Menschenquelle (Wellhausen). 
Der Steuerdruck der Zwingherren, unter welche 
das Volk nacheinander geriet, lastete so schwer auf 
dem Lande, daß viele die heimischen Acker verließen 
und in der Fremde eine bessere Heimat suchten. 
Die sozialen Gegensätze erhielten neuen Zünd- 
stoff durch die Zuneigung der Reichen zum Helle- 
nismus. Die sozialen Wirren beleuchtet scharf eine 
Stelle des Buches Sirach (13, 22 ff): „Welchen 
Frieden hält die Hyäne mit dem Hunde, und wel- 
chen Frieden der Reiche mit dem Armen? Jagd- 
beute der Löwen sind die Waldesel in den Steppen: 
so sind die Armen eine Weide der Reichen.“ Durch 
die herrschende Zwietracht bekam Antiochus Epi- 
phanes Gelegenheit, sich einzumischen; das gegen- 
seitige Zerfleischen in blutigem Bürgerkriege endigt 
mit dem Falle Jerusalems (168). Ein Aufflackern 
von Glanz und Wohlstand erfolgte unter den ersten 
Fürsten aus dem Hause der Hasmonäer. „Ein 
jeglicher baute sein Land in Frieden. Ein jeder 
saß unter seinem Weinstocke und unter seinem 
Phestune, und niemand schreckte sie“ (1 Makk. 
14, 8 ff). 
Die schrecklichen Bruderkämpfe unter den letzten 
hasmonäischen Thronprätendenten brachten den 
Staat unter die Botmäßigkeit Roms. Von jetzt 
ab begannen die konvulsivischen Todeszuckungen, 
die das baldige Ende des Staates erwarten ließen. 
Unruhige Zeiten, maßloser Steuerdruck seitens der 
römischen Zwingherren, Ausbeutung des Volkes 
durch Fürsten und Geldmänner — dies alles half 
zusammen, um dem jüdischen Bauernstande den 
Todesstoß zu versetzen und den Wohlstand des 
Landes zu untergraben. Der Handel freilich er- 
freute sich einer nicht unbedeutenden Blüte; beson- 
ders kam ihm die Erbauung des Hafens von Cä- 
sarea durch Herodes zu statten. 
Unter diesen wenig befriedigenden sozialen Ver- 
hältnissen erhob auch der Kommunismus in 
der Sekte der Essäer sein Haupt, die aus aszetischen 
Motiven Privateigentum und Ehe verwarfen. Der 
Haß gegen die Reichen ließ in den unterdrückten 
Klassen Freischaren, Sikarier genannt, sich bilden, 
die mit Blut und Brand wüteten. Die eingezogenen 
Güter verkauften sie wieder an andere. „So ein- 
gerissen war die Rechtsverhöhnung, daß das Syn- 
edrium eine Verordnung erlassen mußte, dem 
Kaufe unter dieser Form Gültigkeit zu verleihen. 
Man neunt diese Verordnung das Sikariergesetz“ 
(Graetz, Gesch. der Juden III 472). Der Haß gegen 
die Reichen und Romfreunde entzündete auch in Je- 
rusalem eine halb soziale halb politische Revolution 
(66 n. Chr.), die dem Proletariat vorübergehend 
die Herrschaft in Jerusalem verschaffte und die 
Römer daraus verjagte. Die Erbitterung der ge- 
schundenen Volksklassen machte sich in einer blutigen 
Verfolgung der Vornehmen und Reichen Luft, die 
sich vor der Wut des Pöbels in die Kloaken ver- 
krochen. Das Archiv, in dem die Schuldbriefe 
aufbewahrt waren, wurde niedergebrannt, um die 
  
Israeliten. 
  
1464 
Dokumente der Schuldherrschaft zu vernichten. 
Die Revolution in der Hauptstadt brachte ganz 
Palästina in Gärung. Insbesondere loderte die 
Fackel des Aufruhrs in Galiläa empor, wo der 
fanatische Johannes von Gischala, ein reicher Ol- 
händler, sich an die Spitze der Romfeinde stellte. 
Das Schicksal des jüdischen Volkes war be- 
siegelt: vom sozialen und politischen Parteihader 
zerrissen, konnte es dem römischen Zwingherrn 
nicht lange Trotz bieten. Mit der Katastrophe im 
Jahre 70 verschwindet der jüdische Staat aus der 
Geschichte. 
Literatur. Adler, Sozialreform im alten Is- 
rael, im Handwörterb. der Staatswissenschaften, 
II. Supplementband (1897) 695 ff; ders., Geschichte 
des Sozialismus u. Kapitalismus (1899) 53/68; 
Beer, Beitrag zur Gesch. des Klassenkampfes im 
hebräischen Altertum, in Neue Zeit XI. Jahrg., 
1. Bd (1893); Buhl, Die sozialen Verhältnisse der 
J. (1899); Chamberlain, Grundlagen des 19. Jahrh. 
(1900), woselbst S. 323/459 Ausführungen über 
den „Eintritt der Juden in die abendländische Ge- 
schichte“; Cornill, Gesch, des Volkes Israel (Chi- 
cago-Leipzig 1898); ders., Der israelit. Prophetis= 
mus (51900); Förster, Das Mosaische Strafrecht 
in seiner geschichtl. Entwicklung (1900); Graetz, 
Gesch, der Juden (10 Bde, 1874 ff); Hamburger, 
Realenzyklopädie für Bibel u. Talmud (1884); 
Hastings, A Dictionary of the Bible I1 (Edin- 
burgh 1898); Herzfeld, Handelsgesch, der Juden des 
Altertums (1879); Keil, Handb. der bibl. Archäo- 
logie (21875); Kübel, Die soziale u. volkswirtsch. 
Gesetzgebung des Alten Testaments (21891); Löhr, 
Gesch. des Volkes Israel (1900); Memminger, 
Die wirtschaftl. Ansichten der Propheten des Alten 
Bundes, in Monatsschrift für christl. Sozialreform 
1899, 72 ff; Movers, Das phönizische Altertum 
II (1856); Nikel, Die Zustände des auserwählten 
Volkes nach dem Exil, in Biblische Studien V, Hft 
2 u. 3 (1900); Nowack, Die sozialen Probleme in 
Israel u. deren Bedeutung für die religiöse Ent- 
wicklung dieses Volkes (Rektoratsrede, Straßb. 
1892); Ruhland, IJnd. Wirtschaftsgesch., in Zukunft 
VII. Jahrg. (1898); Schegg-Wirthmüller, Bibl. 
Archäologie (1887); Schulte, Zum Moseischen 
Privatrecht (1871); Sellin, Beiträge zur israelit. 
u. jüd. Religionsgesch. (1896/97); Soziale Zu- 
stände des hebräischen Volkes im Altertum, in Hist.= 
polit. Blätter XXVI (1850); Stöcker, Die soziale 
Bedeutung der alttestamentlichen Propheten, in 
Evangelischer Arbeiterbote Nr 77 ff; Streber, Art. 
„Juden“ in Wetzer u. Weltes Kirchenlexikon VI2 
1935 ff, woselbst Literaturangaben; Walter, über 
Agrar= u. Mittelstandspolitik im hebräischen Alter- 
tum, in Wahrheit V (1900); Wellhausen, Israelit. 
u. jüd. Geschichte, 4. Ausg. (1901); Walter, Ent- 
wicklungsgesch der Juden, in Ruhlands System 
der polit. Okonomie 1 (1903) 209 ff; Kleinert, Die 
Propheten Israels in sozialer Beziehung (1905).— 
Eine ausführliche Bibliographie der altisraelit. 
Wirtschaftsgesch enthält Walter: Die Propheten 
in ihrem sozialen Beruf u. das Wirtschaftsleben 
ihrer Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Sozial= 
ethik (1900) 277 ff. 
II. Das Judentum im Kulltur- und Wirt- 
schaftsleben. Das Judentum tritt in der Welt-
	        
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