1479
Republikaner (Mazzini war bereits in Neapel er-
schienen und agitierte für die Republil) zum Schwei-
gen brachte. Gleichzeitig fanden Erhebungen in
den Marken und in Umbrien statt. Der Kirchen-
staat hatte die Reorganisation seiner Armee unter
Merode und Lamoricière begonnen. Cavour for-
derte die Entlassung der Ausländer, d. h. die Auf-
lösung der Armee, und als sein Verlangen selbst-
verständlich abgelehnt wurde, rückten die Piemon=
tesen in die Marken ein. Lamoricière wurde am
18. Sept. 1860 bei Castelfidardo geschlagen, und
nach zwei Volksabstimmungen wurde Okt. 1860
die Annexion des Königreichs Neapel, im November
die der Marken und Umbriens verkündet. So hatten
sich 1859/60 Umfang und Bevölkerungszahl des
sardinischen Staates vervierfacht, Osterreich hatte
die größere und reichere Hälfte seines italienischen
Besitzes, der Kirchenstaat über zwei Drittel verloren,
alle übrigen Staaten waren zertrümmert. Am
17. März 1861 nahm Viktor Emanuel II. den
Titel König von Italien an, worin zugleich der
Anspruch auf Venezien und den Rest des Kirchen-
staates lag. Das unerhörte Glück, das die Ent-
stehung des Einheitsstaates bisher begleitet hatte,
blieb ihm auch nach dem Tode Cavours (6. Juni
1861) treu. Der Krieg zwischen Preußen und
Osterreich 1866 brachte den Italienern trotz ihrer
Niederlagen bei Custoza und Lissa den Gewinn
Veneziens, und als im Kriege von 1870 die fran-
zösische Besatzung, die bisher Rom schützte, abzog,
rückten am 20. Sept, die italienischen Regimenter
ein. Das Plebiszit vom 9. Okt. sprach sich für die
Annexion aus, und am 1. Juli 1871 wurde Rom
die Hauptstadt des Reiches. Die Einrichtungen
des sardinischen Staates wurden in den 1860er
Jahren von den Ministerien Rattazzi und Ricasoli
allmählich auf die annektierten Gebiete ausgedehnt.
Das Werk des ersteren war insbesondere die Tren-
nung der Justiz und Verwaltung und die Organi-
sation der Verwaltung nach französischem Vorbilde,
die wegen ihrer zentralisierenden Tendenz und der
willkürlichen Bezirkseinteilung an Stelle der natür-
lichen und historischen Landschaften leider vergeb-
lich bekämpft wurde.
3. Das Königreich Italien. Das neue
Königreich krankte von vornherein an schweren
Schäden und hat die Hoffnungen seiner Anhänger
auf einen großartigen Aufschwung nur teilweise
erfüllt. Ein wunder Punkt war zunächst das Ver-
hältnis zum Papsttum, das der Staat im Garantie-
gesetz (s. d. Art.) vom 13. Mai 1871 einseitig zu
regeln suchte. Der päpstliche Stuhl nahm es nicht
an, protestierte vielmehr wiederholt gegen den
Rechtsbruch und die Beraubung der Kirche und
rief die Hilfe der katholischen Mächte an; diese
blieb jedoch aus, wie überhaupt die Wiederherstel-
lung des Kirchenstaates wohl aussichtslos ist. Bei
diesem Verhältnisse des Protestes ist es geblieben,
wenn auch der Ton, besonders seit dem Tode
Viktor Emanuels und Pius’ IX. (1878), milder
wurde, abgesehen von der Zeit Crispis (1887/91),
Italien.
1480
der den Vatikan absichtlich zu brüskieren liebte.
Der Staat schloß die Kirche von der Mitwirkung
auf dem Gebiete der Schule und der Wohlfahrts-
pflege aus und beraubte sie durch Aufhebung der
geistlichen Korporationen und Stiftungen und Ein-
ziehung ihrer Güter großenteils ihrer materiellen
Hilfsmittel. Da das Non expedit 1868 den
Katholiken die Beteiligung an den Parlaments-
wahlen verbot, fehlt es an einer parlamentarischen
Vertretung ihrer Interessen; seit 1905 ist das Ver-
bot etwas gemildert worden, und teils im Ein-
verständnisse teils im Widerspruche cchristliche De-
mokratie unter Murri) mit den geistlichen Behörden
suchen sich die Katholiken in neuerer Zeit auch am
öffentlichen Leben mehr zu beteiligen, bei dem
Mangel einer sichern Führung und genügenden
Organisation jedoch vorerst ohne viel Erfolg. Die
Unterschätzung des religiösen Momentes in der
Volkserziehung ist anderseits auch für den Staat
sehr bedenklich (vgl. den Art. Kirchenstaat).
Eine schwere Sorge war für das junge König-
reich die finanzielle und volkswirtschaftliche Frage.
Die Gründung des Einheitsstaates hatte viele
Opfer gekostet, und das erste Budget für 1862
schloß mit einem Defizit von 400 Mill. Lire ab.
Der Ausbau der modernen Verkehrseinrichtungen
und die kulturelle Hebung des vernachlässigten
Südens erforderten viele Ausgaben. Dabei war
das Land arm an Industrie und Kapital und
richtete trotzdem seine Politik nach den Ansprüchen
einer europäischen Großmacht ein. Die Handels-
krise vor dem Kriege von 1866, der Krach von
1873, der Bau= und Bankkrach 1888/90 und
die schweren Opfer für Rüstungen und Kolonien
unter Crispi 1887/96 erschütterten den National-
wohlstand und den Staatshaushalt. Im ersten
Jahrzehnt opferten sich Sella und Minghetti
östers im Finanzministerium auf, später waren
namentlich Magliani und Sonnino in der Sanie-
rung der Finanzen tätig. So gelang es schließ-
lich, das Budget in Ordnung zu bringen und die
Papiergeld= und Agiowirtschaft zu beseitigen,
freilich durch schweren und vielfach ungerechten
Steuerdruck, der die wirtschaftliche und soziale
Entwicklung hemmt und schon öfters zu Unruhen
geführt hat. Armut, Unbildung und der ganze
Volkscharakter, der mehr zu leidenschaftlichen Aus-
brüchen als zu andauernder Organisationsarbeit
mit allmählichem Erfolge neigt, begünstigten die
Verbreitung anarchistischer Ideen, wogegen die
sozialistische Agitation lange großen Schwierig-
keiten begegnete. Erst seit Entwicklung der Groß-
industrie vor allem in Oberitalien hat die Ar-
beiterbewegung eine gewisse Macht entfaltet (erster
sozialistischer Kongreß zu Ravenna 1883) und
auch die ländliche Arbeiterschaft ergriffen. Deren
Lage war namentlich im Süden sehr unbefrie-
digend, wo die Latifundienwirtschaft die Landbe-
völkerung teils ausbeutete teils zur Auswan-
derung trieb. Auch dienten hier die freiheitlichen
Einrichtungen vielfach dazu, alle Zweige der Ver-