Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1481 
waltung in die Hände korrumpierter Gesellschaften 
(Camorra, Mafia) oder wenigstens selbstsüchtiger 
Klassen zu bringen, welche die Lasten auf die 
Armen abwälzten. Bedenkliche Unruhen auf 
Sizilien 1893/94 und in Oberitalien 1898 
machten den Ernst der Sache klar. Trotz allem 
wird man anerkennen müssen, daß in den letzten 
Jahrzehnten Wohlstand, Ordnung und Sicher- 
heit, Neigung zu andauernder Arbeit und Unter- 
nehmungsgeist, Volksbildung und geistige Lei- 
stungen gestiegen sind. Woll-, Baumwoll= und 
Seidenindustrie, Bergbau und Eisenindustrie, 
Kunstgewerbe, Baum= und Olkultur haben sich 
entwickelt, dem Handel kamen die Eröffnung der 
Alpenbahnen und des Sueskanals zu statten. 
Ein Krebsschaden im politischen Leben Italiens 
ist der Parlamentarismus. Der Bestand des 
Ministeriums ist an die Mehrheit der Deputier- 
tenkammer gebunden und unterliegt daher einem 
häufigen Wechsel, was die Kontinuität in der 
Verwaltung erschwert und die Aktionsfreiheit und 
Initiative der Regierung lähmt. Das Mini- 
sterium wird nicht aus den Beamten und Fach- 
männern genommen, sondern aus den Berufs- 
olitikern in der Kammer. Unter der Herrschaft 
der Rechten (Lanza-Sella 1869/73, Minghetti 
1873/16) wurde durch Ricotti die Armee nach 
preußischem Muster reorganisiert und neubewaff- 
net, die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und 
Rom mit einem Kranze von Forts umgeben. 
Das Verhältnis zu Frankreich, das 1870 fast zu 
einem Bündnis gegen Preußen geführt hätte, 
verschlechterte sich, da die französische Republik 
den neuen kirchenräuberischen Staat sehr un- 
freundlich behandelte; schon unter Minghetti 
kündigte sich durch Fürstenbesuche eine Annähe- 
rung an Deutschland und Osterreich an. 1876 
kam die Linke, vielfach aus Süditalienern be- 
stehend, ans Ruder, und bis zu seinem Tode 1887 
war meistens Depretis, in den Zwischenpausen Ni- 
cotera und Cairoli an der Spitze des Ministe- 
riums. Die Linke stellte sofort ein ganz umfassendes 
liberales Reformprogramm auf, von dem 1877 
die allgemeine Schulpflicht und 1882 die Wahl- 
reform durchgingen. Letztere setzte das Alter von 
25 auf 21 Jahre, den Zensus von 40 auf 20 Lire 
herunter, schloß die Analphabeten vom Wahlrecht 
aus und führte das Listenskrutinium nach fran- 
zösischem Muster ein. Da Italien dank seiner 
Isolierung auf dem Berliner Kongreß leer aus- 
gegangen war und das Verhältnis zu Frankreich 
seit der Besetzung von Tunis 1881 sich noch mehr 
verschlechtert hatte, schloß sich Italien 1882 mit 
Deutschland und Osterreich zum Dreibund zu- 
sammen, der in König Humbert, seit 1878 Nach- 
folger seines Vaters Viktor Emanuel, einen treuen 
Anhänger hatte. Zugleich suchte es seine Geltung 
seit 1881 durch vermehrte Rüstungen zusteigern: die 
Anzahl der Armeekorps wurde von 10 auf 12, die 
Friedenspräsenz von 300000 auf 400 000 Mann 
erhöht und mit großen Opfern seit 1883 eine 
Italien. 
  
1482 
Marine geschaffen. Um die erheblichen Forde- 
rungen im Parlament durchzubringen, griff De- 
pretis seit 1882 zum System des trasformismo, 
d. h. der Bildung des Kabinetts aus mehreren 
Parteien. Zum Ersatz für das entgangene Tunis 
begann man, eine Kolonie im Roten Meere zu 
schaffen: 1882 wurde die Assabbai übernommen 
und 1885 Massauabesetzt. 1887/91 und 1893/96 
führte Crispi die Regierung, ein Mann von hoher 
Begabung und kühner Energie, aber ohne Selbst- 
zucht, Rücksicht und Mäßigung. Die Freund- 
schaft mit Deutschland wurde intimer, die mit 
Osterreich litt unter der alten Abneigung und der 
irredentistischen Agitation; die Mißstimmung 
gegen Frankreich steigerte sich bis zum Zollkrieg. 
Unter Crispis übertriebener Großmachtpolitik 
litten die Finanzen wieder schwer durch die Stei- 
gerung der Rüstungen, die Befestigung der Alpen- 
pässe gegen Frankreich und die Kosten der Kolo- 
nialpolitik. Während des abessinischen Thron- 
streites gewann Italien 1887 einen Teil von 
Tigre und das Proteklorat über Abessinien; da 
es sich immer weiter, auch im Somaliland auszu- 
dehnen suchte, warf Menelik das Protektorat ab 
und zwang durch den Sieg bei Adua 1. März 
1896 Italien zum Verzicht auf Tigre. Da der 
Rest Erythräas und Somaliland ziemlich wertlos 
sind, ist die Kolonialpolitikgescheitert; auch die Hoff- 
nungen auf Tripolis scheinen sich nicht zu ver- 
wirklichen. Die unmittelbare Folge der Nieder- 
lage war der Sturz Crispis. Di Rudini, wie 
chon 1891/92, so auch jetzt (1896/98) sein Nach- 
folger, verfolgte eine nützliche Politik der Spar- 
samkeit und Sammlung und der Versöhnlichkeit 
auch gegen Frankreich und die Kurie. Der Auf- 
stand in Mailand 1898 und die Ermordung 
König Humberts durch einen Anarchisten 1900 
mahnten die Regierung zur Tätigkeit im eigenen 
Lande. Bei dem raschen Wechsel der Ministerien 
im letzten Jahrzehnt (1898 Pelloux, 1899 Sa- 
racco, 1901 Zanardelli, 1903 Giolitti, 1905 
Fortis, Febr. 1906 Sonnino, Dez. 1906 Giolitti) 
hat sie es zu keiner hohen Autorität gebracht, was 
auch die Post= und Bahnbeamtenstreiks beweisen. 
Der Dreibund ist zwar immer wieder, zuletzt bis 
1912, erneuert worden, hat auch in maßgebenden 
und sachverständigen Kreisen, so im langjährigen 
Minister des Auswärtigen Tittoni, überzeugte 
Vertreter. Da die Volksstimmung sich aber ent- 
schieden Frankreich zugewandt hat und namentlich 
Osterreich als Inhaber Triests und des Trentinos 
und als Rivale auf dem Balkan (Albanien) von 
der öffentlichen Meinung bekämpft wird, ist im 
Ernstfall auf Italien nicht mehr sicher zu rechnen. 
II. Jläche, Wevölllkerung. Bei der Prokla- 
mation des Königreichs Italien am 7. März 1861 
zählte das Reich 248751 qkm; gegenwärtig, nach 
der Annexion Venetiens, der mantuanischen Be- 
zirke (3. Okt. 1866) mit 25816 qkm und Roms 
(20. Sept. 1870) mit 12 081 qkm umfaßt es 
286 682 qkm, wovon 236 464 qkm auf das 
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