Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1487 
des politischen Lebens Italiens ist einerseits die 
ausgedehnte Einmischung der politischen Parteien 
bzw. Abgeordneten in die Staatsverwaltung und 
Gerechtigkeitspflege, anderseits der umfangreiche 
Einfluß, den die Regierung auf die Zusammen- 
setzung der Kammer und die Bildung einer Re- 
gierungsmehrheit ausübt. 
Die Zentralverwaltung des Reiches ob- 
liegt den Ministern mit Beihilfe der Unterstaats- 
sekretäre, welche in Abwesenheit der Minister die- 
selben auch vertreten. Weder die Minister noch 
die Unterstaatssekretäre müssen Mitglieder der 
Kammer sein. — Es gibt gegenwärtig 11 Mini- 
sterien: für Inneres, Finanzen, Schatz, Justiz 
und Kultus, öffentlichen Unterricht, öffentliche Ar- 
beiten, Ackerbau, Gewerbe und Handel, Posten 
und Telegraphen, Krieg, Marine, Auswärtiges. 
Jedes Ministerium besteht aus einem oder mehreren 
Beamtenkörpern unter der direkten Leitung des 
Ministers. Den Ministern zur Seite steht der 
Staatsrat als beratende Körperschaft und zu- 
gleich als oberste entscheidende juristische Behörde 
über Rekurse in Kompetenzstreitigkeiten, bei Ge- 
waltüberschreitungen und Gesetzesverletzungen der 
verschiedenen Verwaltungsbehörden. Erbildet 4Ab- 
teilungen, von denen die 3 ersten die begutachtende 
Befugnis ausüben, während die vierte als oberster 
Verwaltungsgerichtshof fungiert (1 Präsident, 
4 Abteilungspräsidenten, 32 Räte). Die Mitglieder 
werden aus bewährten hohen Beamten, politisch 
oder sonst hervorragenden Persönlichkeiten auf Vor- 
schlag des Ministers vom Könige ernannt; sie 
können nur mit ihrer Zustimmung in andere Stel- 
lungen versetzt und nicht willkürlich aus ihrem Amte 
entfernt werden. Der Rechnungshof ist eine 
selbständige Behörde, welche alle von den Ministern 
ausgehenden Erlasse vor ihrer Publikation einer 
Prüfung ihrer Legalität unterzieht, die Verwaltung 
der öffentlichen Finanzen kontrolliert und als rich- 
terliche Behörde endgültig über die Haftpflicht der 
Staats= und Gemeindebeamten aus Anlaß ihrer 
Rechnungslegung entscheidet (1 Präsident, 2 Ab- 
teilungspräsidenten, 12 Räte, 1 Generalpro- 
kurator). 
Die Provinzer besitzen Selbstverwal- 
tung; die Ausübung derselben und die Schaffung 
der dazu nötigen gesetzlichen Bestimmungen steht 
dem auf fünf Jahre gewählten, je nach der Größe 
der Provinz aus 20—60 Mitgliedern bestehenden 
Provinzialrat und der Provinzialdeputation (6 
bis 10 Mitgl.) zu. Die Provinzialräte sind hin- 
sichtlich ihrer Wahl auf die „Amter“ verteilt und 
werden von den Gemeindewählern des „Amtes“ 
gewählt, wobei Seelsorger, bestimmte Beamte 
und Personen unter 25 Jahren nicht wählbar 
sind. Der Provinzialrat beschließt über das Ver- 
mögen und die Anstalten (besonders Wohlfahrts- 
einrichtungen, Erziehungsanstalten, Mittelschulen) 
der Provinz, über Straßen, Flußregulierungen 
und Forstangelegenheiten, welche der Provinz zur 
Last fallen. Die aus dem Provinzialrat und von 
  
Italien. 
  
1488 
diesem gewählte Provinzialdeputation wacht in der 
Zeit zwischen den Sitzungen des ersteren über die 
Vollziehung seiner Beschlüsse; sie überwacht, er- 
nennt und entsetzt die Provinzialbeamten. Ver- 
treter der Zentralverwaltung in den Provinzen ist 
der dem Minister des Innern unterstellte Prä- 
fekt, der zugleich die Funktionen eines politischen 
Beamten ausübt, so namentlich bei den Wahlen 
für die verschiedenen Vertretungskörper. Ihre Er- 
nennung erfolgt lediglich nach dem Ermessen des 
Ministeriums ohne Rücksicht auf Dienstalter, Prü- 
fungen usw. Ihm zur Seite stehen die Unter- 
präfekten (in den Distrikten Distriktskom- 
missare genannt), die unter Aufsicht des Präfekten 
die Verwaltungsgeschäfte des Kreises besorgen. 
Der von der Regierung ernannte Präfekturrat 
(3 Mitgl.) unterstützt den Präfekten in seinen 
Amtshandlungen. Unter diesen Behörden funk- 
tionieren die Sindaci, welche zugleich Bürger- 
meister sind und den staatlichen Verwaltungs- 
dienst besorgen. Den Präfekten und Unterpräfekten 
untersteht die Sicherheitspolizei; sie werden dabei 
von Inspektoren und Delegierten unterstützt. Nur 
in den Großstädten von mehr als 100 000 Ein- 
wohnern wird die Sicherheitspolizei nicht von den 
Präfekten, sondern von eigens zu diesem Zwecke ein- 
gesetzten Beamten, Quästoren (Polizeipräsidenten), 
geleitet. Jede Provinzhat eine Finanzintendanz für 
die Verwaltung der Domänen und die Oberauf- 
sicht über den Kultusfonds, die direkten Steuern, 
den Zolldienst und den Kataster der Provinz, so- 
wie über Maße und Gewichte. Jede Provinz hat 
ferner einen Schulrat, einen Sanitätsrat, eine Post- 
direktion und ein Zentralbauamt. Der Präfekt 
hat auch die Verfügungen und Beschlüsse der Ge- 
meindevertretung zu prüfen. Endlich besteht seit 
1889in jeder Provinz eine Provinzialverwaltungs- 
giunta (giunta amministrativa provinciale), 
die aus dem Präfekten, 2 Präfekturräten und 
4 vom Provinzialrat gewählten Mitgliedern be- 
steht. Als Verwaltungsbehörde wirkt sie mit 
bei der dem Präfekten zustehenden Staatsaufsicht 
über die autonomen Körperschaften der Provinz; 
ihrer Genehmigung unterliegen alle finanziell er- 
heblichen Maßnahmen der Provinzial-- und Ge- 
meindeverwaltungen, die Reglemente über die Ver- 
waltung der Gemeindegüter, über Steuern, Lokal- 
polizei u. dgl. Als richterliche Behörde entscheidet 
sie über alle in der Provinz entstehenden Ver- 
waltungsstreitigkeiten, über Rekurse gegen Ver- 
fügungen der Lokalbehörden in bau-, gewerbe- 
und gesundheitspolizeilichen Dingen, über Rekurse 
wegen Inkompetenz, Gewaltüberschreitung oder 
Gesetzverletzung, wo gerichtliche Kompetenz nicht 
besteht u. dgl. 
Die alte italienische Gemeindefreiheit wurde 
von der französischen Herrschaft aufgehoben und 
ist seither nicht wiederhergestellt; ohne Unterschied 
der Größe und Bevölkerungszahl, der Verschieden- 
heiten der wirtschaftlichen Lage und des Kultur- 
zustandes besitzen die Gemeinden die gleiche Ver-
	        
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