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richtsbarkeit in Deutschland; in seinem Namen er-
kannten die Reichsgerichte mit voller Unabhängig-
keit; nur in gewissen Fällen beim Reichshofrat
war die Entscheidung dem Kaiser selbst vorbehalten.
Der Kaiser war auch die Quelle aller Gnaden und
Privilegien, in Strafen wie in andern Rechts-
sachen; er hatte die Befugnis, Justizprivilegien
zu erteilen, z. B. das ius de non appellando,
das ius de non evocando, das Recht, den Adel
in seinen verschiedenen Abstufungen zu verleihen,
Wappen zu erteilen, Universitätsprivilegien zu ver-
leihen, Notarien zu ernennen, von der Beobach-
tung gemeinschaftlicher Vorschriften, z. B. bei Er-
richtung von Familienstatuten, zu dispensieren,
Volljährigkeit zu geben, Legitimation unehelicher
Kinder durch Reskript zu verfügen u. dgl.
D. Das deutsche Kaisertum. I. Geschichte
der Gründung. 1) Gründungsversuche.
— a,) Schon im Aug. 1806 machte Preußen
den Versuch, einen „norddeutschen Reichsbund“
mit einem preußischen Kaisertum an der Spitze
zu schaffen. Der Versuch mißlang. — b) Auf
dem Wiener Kongreß wurde im Nov. und Dez.
1814 von 31 kleinen deutschen Staaten auf Ver-
anlassung von Braunschweig das Gesuch an Han-
nover gerichtet, bei Entwerfung der Bundesver-
fassung die Wiederherstellung der Kaiserwürde
vorzuschlagen. Hannover lehnte aber das Gesuch
ab. In dieser Zeit der politischen Zerfahrenheit
war es vor allem der von Napoleon als fünfte
gegnerische Großmacht bezeichnete Görres, wel-
cher im „Rheinischen Merkur“ für die Wieder-
herstellung der deutschen Kaiserwürde, und zwar
im Hause Osterreich, eintrat und sich dadurch den
höchsten Unwillen der preußischen Regierung zu-
zog, die ihm solche „Anregungen“ untersagte und
schließlich die Herausgabe des „Rheinischen Mer-
kur“ verbot. Hierauf setzte Görres in seiner be-
rühmten Schrift „Deutschlands künftige Verfas-
sung, Frankfurt 1816"“ die Propaganda für die
Wiedererrichtung des deutschen Kaisertums und
dessen Ubertragung an das Haus Habsburg furcht-
los, aber erfolglos fort (vugl. Joseph v. Görres,
Gesammelte Schriften (1854/557 II 319 ff,
413 ff. 465; III 374/375, 392/393; Galland,
Joseph v. Görres I118761 173/174, 176/177,
206, 233). — c) Die konstituierende deutsche
Nationalversammlung in Frankfurt beschloß am
28. März 1848 eine Reichsverfassung, wonach
als Reichsoberhaupt ein Erbkaiser mit dem Titel
„Kaiser der Deutschen“ aus den regierenden deut-
schen Fürsten gewählt werden sollte (68 68/84);
noch am gleichen Tag beschloß die Versammlung,
die Kaiserwürde an Preußen zu übertragen. Die
Durchführung dieser Beschlüsse scheiterte aber an
dem Widerstreben der deutschen Regierungen, ins-
besondere an dem Widerstreben des Königs von
Preußen, Friedrich Wilhelm IV., welcher eine
Kaiserwahl nur durch die deutschen Fürsten, nicht
durch eine Volksvertretung anerkennen wollte. —
Kaiser.
galt als oberster Richter und als Quelle aller Ge-
1552
2) Die Gründung des deutschen Kaisertums
wurde vorbereitet durch die kriegerischen Erfolge
Preußens im Jahre 1866 und die hierdurch herbei-
geführte Gründung des Norddeutschen Bundes, in
welchem Preußen das „Präsidium“ führte. Bei
der Ausarbeitung der Verfassung des Norddeut-
schen Bundes hat der Reichskanzler Bismarck
die Wiederherstellung von Kaiser und Reich ernst-
lich in Erwägung gezogen. Auch fehlte es nicht
an Landesfürsten, die sich schon damals dem
Kaisergedanken geneigt zeigten; so hat im Dez.
1866 Herzog Georg von Meiningen in Briefen
an Herzog Ernst von Koburg und noch wärmer
Großherzog Peter von Oldenburg in einer Denk-
schrift die Herstellung der Kaiserwürde empfohlen
(Lorenz, Kaiser Wilhelm usw. 575/581). Auch
in der Folgezeit verlor Bismarck dieses Ziel
nicht aus dem Auge; noch im Frühjahr 1870 be-
mühte er sich, das Kaiserprojekt seiner Verwirk-
lichung näher zu bringen (v. Ruville, Bayern und
die Wiederaufrichtung des Deutschen Reichs,
94/128). Erst aus den Siegen der vereinigten
deutschen Truppen im Kriege gegen Frankreich
erwuchs das deutsche Kaisertum. Für die Wieder-
herstellung der Kaiserwürde traten in dieser Zeit
namentlich Kronprinz Friedrich von Preußen und
der Großherzog Friedrich von Baden ein. Der
Kronprinz, der sich im Jahre 1866 gegenüber
der Kaiseridee zurückhaltend oder gar ablehnend
verhalten hatte, zeigte nunmehr das lebhafteste
Interesse für die Wiederherstellung des Kaiser-
tums; schon wenige Tage nach der Schlacht von
Wörth erklärte er, wenn die süddeutschen Könige
damit nicht einverstanden seien, so sei „be-
reits die Macht vorhanden, Widerstrebende zu
nötigen“. Durch die gemeinsam bestandenen Ge-
fahren und Kämpfe wurde das Gefühl der Zu-
sammengehörigkeit und die Erkenntnis der Not-
wendigkeit einer dauernden und festen Organi-
sation im deutschen Volke, seinen Fürsten und
Volksvertretungen rasch und allgemein wachge-
rufen. Es war der Zentrumsabgeordnete Peter
Reichensperger, welcher als der erste in der Be-
ratung des Norddeutschen Reichstages am 26. Nov.
1870 das neue deutsche Kaisertum unter dem leb-
haften Beifall der Versammlung begrüßte: „Ich
vertraue auch, daß der siegreich geführte Volks-
krieg und die wohlgeordnete Einrichtung des
neuen deutschen Bundes das Volk auch den
Schlußstein erreichen lasse, der immer erstrebt
wird und erstrebt werden muß, — ich hege keinen
Zweifel, daß unter unsern Augen die Tore des
Kyffhäusers sich öffnen und daß wir den Morgen-
gruß des erwachenden deutschen Kaiserreichs ver-
nehmen werden“ (Sten. Ber. S. 9). Nachdem die
vier süddeutschen Staaten durch die Versailler
Verträge mit dem Norddeutschen Bunde die Grün-
dung des Deutschen Reichs vorbehaltlich der
Zustimmung ihrer Volksvertretungen vereinbart
hatten, brachte Bismarck am 26. Nov. 1870
durch den Grafen Holnstein bei König Ludwig II.