Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1551 
richtsbarkeit in Deutschland; in seinem Namen er- 
kannten die Reichsgerichte mit voller Unabhängig- 
keit; nur in gewissen Fällen beim Reichshofrat 
war die Entscheidung dem Kaiser selbst vorbehalten. 
Der Kaiser war auch die Quelle aller Gnaden und 
Privilegien, in Strafen wie in andern Rechts- 
sachen; er hatte die Befugnis, Justizprivilegien 
zu erteilen, z. B. das ius de non appellando, 
das ius de non evocando, das Recht, den Adel 
in seinen verschiedenen Abstufungen zu verleihen, 
Wappen zu erteilen, Universitätsprivilegien zu ver- 
leihen, Notarien zu ernennen, von der Beobach- 
tung gemeinschaftlicher Vorschriften, z. B. bei Er- 
richtung von Familienstatuten, zu dispensieren, 
Volljährigkeit zu geben, Legitimation unehelicher 
Kinder durch Reskript zu verfügen u. dgl. 
D. Das deutsche Kaisertum. I. Geschichte 
der Gründung. 1) Gründungsversuche. 
— a,) Schon im Aug. 1806 machte Preußen 
den Versuch, einen „norddeutschen Reichsbund“ 
mit einem preußischen Kaisertum an der Spitze 
zu schaffen. Der Versuch mißlang. — b) Auf 
dem Wiener Kongreß wurde im Nov. und Dez. 
1814 von 31 kleinen deutschen Staaten auf Ver- 
anlassung von Braunschweig das Gesuch an Han- 
nover gerichtet, bei Entwerfung der Bundesver- 
fassung die Wiederherstellung der Kaiserwürde 
vorzuschlagen. Hannover lehnte aber das Gesuch 
ab. In dieser Zeit der politischen Zerfahrenheit 
war es vor allem der von Napoleon als fünfte 
gegnerische Großmacht bezeichnete Görres, wel- 
cher im „Rheinischen Merkur“ für die Wieder- 
herstellung der deutschen Kaiserwürde, und zwar 
im Hause Osterreich, eintrat und sich dadurch den 
höchsten Unwillen der preußischen Regierung zu- 
zog, die ihm solche „Anregungen“ untersagte und 
schließlich die Herausgabe des „Rheinischen Mer- 
kur“ verbot. Hierauf setzte Görres in seiner be- 
rühmten Schrift „Deutschlands künftige Verfas- 
sung, Frankfurt 1816"“ die Propaganda für die 
Wiedererrichtung des deutschen Kaisertums und 
dessen Ubertragung an das Haus Habsburg furcht- 
los, aber erfolglos fort (vugl. Joseph v. Görres, 
Gesammelte Schriften (1854/557 II 319 ff, 
413 ff. 465; III 374/375, 392/393; Galland, 
Joseph v. Görres I118761 173/174, 176/177, 
206, 233). — c) Die konstituierende deutsche 
Nationalversammlung in Frankfurt beschloß am 
28. März 1848 eine Reichsverfassung, wonach 
als Reichsoberhaupt ein Erbkaiser mit dem Titel 
„Kaiser der Deutschen“ aus den regierenden deut- 
schen Fürsten gewählt werden sollte (68 68/84); 
noch am gleichen Tag beschloß die Versammlung, 
die Kaiserwürde an Preußen zu übertragen. Die 
Durchführung dieser Beschlüsse scheiterte aber an 
dem Widerstreben der deutschen Regierungen, ins- 
besondere an dem Widerstreben des Königs von 
Preußen, Friedrich Wilhelm IV., welcher eine 
Kaiserwahl nur durch die deutschen Fürsten, nicht 
durch eine Volksvertretung anerkennen wollte. — 
  
Kaiser. 
galt als oberster Richter und als Quelle aller Ge- 
  
1552 
2) Die Gründung des deutschen Kaisertums 
wurde vorbereitet durch die kriegerischen Erfolge 
Preußens im Jahre 1866 und die hierdurch herbei- 
geführte Gründung des Norddeutschen Bundes, in 
welchem Preußen das „Präsidium“ führte. Bei 
der Ausarbeitung der Verfassung des Norddeut- 
schen Bundes hat der Reichskanzler Bismarck 
die Wiederherstellung von Kaiser und Reich ernst- 
lich in Erwägung gezogen. Auch fehlte es nicht 
an Landesfürsten, die sich schon damals dem 
Kaisergedanken geneigt zeigten; so hat im Dez. 
1866 Herzog Georg von Meiningen in Briefen 
an Herzog Ernst von Koburg und noch wärmer 
Großherzog Peter von Oldenburg in einer Denk- 
schrift die Herstellung der Kaiserwürde empfohlen 
(Lorenz, Kaiser Wilhelm usw. 575/581). Auch 
in der Folgezeit verlor Bismarck dieses Ziel 
nicht aus dem Auge; noch im Frühjahr 1870 be- 
mühte er sich, das Kaiserprojekt seiner Verwirk- 
lichung näher zu bringen (v. Ruville, Bayern und 
die Wiederaufrichtung des Deutschen Reichs, 
94/128). Erst aus den Siegen der vereinigten 
deutschen Truppen im Kriege gegen Frankreich 
erwuchs das deutsche Kaisertum. Für die Wieder- 
herstellung der Kaiserwürde traten in dieser Zeit 
namentlich Kronprinz Friedrich von Preußen und 
der Großherzog Friedrich von Baden ein. Der 
Kronprinz, der sich im Jahre 1866 gegenüber 
der Kaiseridee zurückhaltend oder gar ablehnend 
verhalten hatte, zeigte nunmehr das lebhafteste 
Interesse für die Wiederherstellung des Kaiser- 
tums; schon wenige Tage nach der Schlacht von 
Wörth erklärte er, wenn die süddeutschen Könige 
damit nicht einverstanden seien, so sei „be- 
reits die Macht vorhanden, Widerstrebende zu 
nötigen“. Durch die gemeinsam bestandenen Ge- 
fahren und Kämpfe wurde das Gefühl der Zu- 
sammengehörigkeit und die Erkenntnis der Not- 
wendigkeit einer dauernden und festen Organi- 
sation im deutschen Volke, seinen Fürsten und 
Volksvertretungen rasch und allgemein wachge- 
rufen. Es war der Zentrumsabgeordnete Peter 
Reichensperger, welcher als der erste in der Be- 
ratung des Norddeutschen Reichstages am 26. Nov. 
1870 das neue deutsche Kaisertum unter dem leb- 
haften Beifall der Versammlung begrüßte: „Ich 
vertraue auch, daß der siegreich geführte Volks- 
krieg und die wohlgeordnete Einrichtung des 
neuen deutschen Bundes das Volk auch den 
Schlußstein erreichen lasse, der immer erstrebt 
wird und erstrebt werden muß, — ich hege keinen 
Zweifel, daß unter unsern Augen die Tore des 
Kyffhäusers sich öffnen und daß wir den Morgen- 
gruß des erwachenden deutschen Kaiserreichs ver- 
nehmen werden“ (Sten. Ber. S. 9). Nachdem die 
vier süddeutschen Staaten durch die Versailler 
Verträge mit dem Norddeutschen Bunde die Grün- 
dung des Deutschen Reichs vorbehaltlich der 
Zustimmung ihrer Volksvertretungen vereinbart 
hatten, brachte Bismarck am 26. Nov. 1870 
durch den Grafen Holnstein bei König Ludwig II.
	        
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