Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1559 
Reichstag einberufen. Er ernennt den Vorsitzen- 
den des Bundesrates, und in seinem Namen 
gehen die Vorlagen nach Maßgabe der Beschlüsse 
des Bundesrates an den Reichstag; ihm steht die 
Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze, 
dagegen kein Veto gegen die übereinstimmenden 
Beschlüsse von Bundesrat und Reichstag zu. 
Doch ist dem Kaiser innerhalb des Bundesrates 
in den wichtigsten Fragen die Entscheidung inso- 
fern anheimgegeben, als ohne Zustimmung des 
„Präsidiums“ die bestehenden Einrichtungen im 
Militär-, Marine= und Steuerwesen nicht ab- 
geändert werden können; ebensowenig kann 
eine Abänderung der Reichsverfassung gegen die 
17 Stimmen Preußens oder eine Auflösung des 
Reichstages ohne die Zustimmung des Kaisers be- 
schlossen werden. — c) Die gesamte Landmacht 
und Kriegsmarine des Reichs steht unter dem 
Oberbefehl des Kaisers. Während die Kriegs- 
marine dem Kaiser ohne jede Beteiligung von 
Einzelstaaten bei der Verwaltung unterstellt ist, 
daher den Titel „kaiserlich“ führt (R.-V. Art. 58), 
ist beim Heer die Militärhoheit zwischen dem 
Kaiser und den Kontingentsherren geteilt. Dem 
Kaiser kommt es ferner zu, gegen Bundesglieder, 
welche ihre verfassungsmäßigen Bundespflichten 
nicht erfüllen, die Exekution durchzuführen; er 
allein ist befugt, Teile des Bundesgebiets (außer- 
halb Bayerns), wenn in ihnen die öffentliche 
Sicherheit bedroht ist, in Kriegszustand zu er- 
klären. Die alle öffentlichen Verhältnisse beherr- 
schende und ins Ungeheure gesteigerte Sorge für 
die bewaffnete Macht, für welche die besten Kräfte 
der Nation, intellektuelle, physische wie finanzielle, 
aufgeboten werden, der Militarismus ist vor allem 
für die Gestaltung des neuen Kaisertums kenn- 
zeichnend. — d) Der Kaiser überwacht die Aus- 
führung der Reichsgesetze und ernennt und ent- 
läßt als Geschäftsführer des Reichs die Reichs- 
beamten, insbesondere auch den einzigen Minister 
des Reichs, den Reichskanzler. Sämtliche Reichs- 
beamten werden für das Reich beeidigt, wobei sie 
dem Kaiser Treue und Gehorsam zu schwören 
haben. Die Bureaukratie ist ein weiteres Kenn- 
zeichen des neuen Reichs. — e) Der Kaiser hat 
keine Zivilliste; die Kosten des Kaisertums sind 
vom Könige von Preußen zu bestreiten. 
III. Die Weiterentwicklung des deutschen 
Kaisertums. 1) Kirchenpolitik. Aus dem Um- 
stand, daß das preußische Königshaus einem prote- 
stantischen Bekenntnis angehört, und daß der 
König von Preußen Oberhaupt der protestantischen 
Landeskirchen Preußens ist, hat man schon ein 
„protestantisches Kaisertum“ zu konstruieren ver- 
sucht; es ist dies z. B. von dem Reichskanzler 
Fürsten v. Bismarck am 6. März 1872 im preu- 
Phischen Herrenhaus, von dem deutschen Botschafter 
in London Grafen Münster am 12. Mai 1875 auf 
einem Bankett des dortigen Nationalklubs, von 
dem Abgeordneten v. Bennigsen am 26. u. 27. Jan. 
1881 im preußischen Abgeordnetenhaus geschehen. 
Kaiser. 
  
1560 
Auchliterarisch ist dieser Gedanke vertreten worden; 
so von Stillfried (Attribute des Reichs 17): „Der 
Kaiser bleibt als König von Preußen sowie als 
Deutscher Kaiser immer der Primas des Prote- 
stantismus in Deutschland und hat dieser Stellung 
Rechnung zu tragen.“ Auch der Reichskanzler a. D. 
Fürst v. Bismarck hat am 31. Juli 1892 in einer 
Rede auf dem Marktplatz zu Jena und noch später 
in seinen „Gedanken und Erinnerungen" (I# 310) 
seine alte Auffassung vom „evangelischen Kaiser- 
tum“ festgehalten. Fürst Eulenburg hat sich am 
11. Juli 1908 vor dem Berliner Schwurgericht 
als „Verfechter und Opfer der großen Idee des 
protestantischen Kaisertums“ bezeichnet. Wenn 
nun auch diese konfessionelle Konstruktion des 
deutschen Kaisertums jedes Rechtsgrundes entbehrt, 
so zeigt sie doch die Gefahr, welche in der Über- 
tragung protestantischer Anschauungen auf das 
Reich liegen würde: der Summepiskopat des 
preußischen Landesherrn, übertragen auf das Kaiser- 
tum, müßte zur Cäsaropapie führen. Daß die 
Verbindung des kaiserlichen Amtes mit der Krone 
Preußens es erleichtert, die absolutistischen Grund- 
sätze der traditionellen Kirchenpolitik Preußens 
auch im Reiche zur Geltung zu bringen, hat 
der „Kulturkampf“ bewiesen, dessen Verfolgungs- 
gesetze zum Teil noch heute fortbestehen. Eine 
besonders interessante Episode in dem Kampfe 
gegen die katholische Kirche war der Versuch Bis- 
marcks, die europäischen Regierungen zu einem 
gemeinsamen Vorgehen bei der Papstwahl, ins- 
besondere zu einer Verständigung „über die Be- 
dingungen, von welchen sie eventuell die Anerken- 
nung einer Wahl abhängig machen würden“, zu 
bewegen (Zirkulardepesche vom 14. Mai 1872). 
Das völlige Mißlingen dieses Versuchs hielt 
übrigens Bismarck nicht ab, im Jahre 1885 bei 
dem Streite Deutschlands mit Spanien wegen 
der Karolineninsel Bap den Papst zum Schieds- 
richter anzurufen. — 2) Weltmachtspolitik. 
Wie die Ignorierung der Kirche, so ist auch die 
Beschränkung des Kaisertums auf die nationalen 
Aufgaben einer europäischen Großmacht, an welche 
die Gründer des Reichs allein dachten, aufgegeben 
worden. In der kaiserlichen Thronrede bei Er- 
öffnung des ersten deutschen Reichstags (21. März 
1871) hieß es: „Das neue Deutschland wird 
ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens 
sein, weil es stark und selbstbewußt genug ist, um 
sich die Ordnung seiner eigenen Angelegenheiten 
als sein ausschließliches, aber auch ausreichendes 
und zufriedenstellendes Erbteil zu bewahren.“ 
Von dieser Verkündigung des Grundsatzes der 
Nichtintervention aber gelangte das Kaisertum, 
nachdem es seit 1884 Schutzgebiete in Afrika und 
in den Südseeländern erworben hatte, zu dem 
Satz der Thronrede vom 22. Nov. 1888: „Unsere 
afrikanischen Ansiedlungen haben das Deutsche 
Reich an der Aufgabe beteiligt, jenen Weltteil 
für die christliche Gesittung zu gewinnen.“ Es 
folgte 1898 die Pachtung von Kiautschou, 1899 
 
	        
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