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der Ankauf der Karolinen-, Marianen- und
Palau-Inseln. Auch die kaiserliche Sozialpolitik
hat über die Wahrung der „eigenen“ Angelegen-
heiten hinaus zur Einberufung der internationalen
Arbeiterschutzkonferenz geführt (1890). Zu durch-
greifenden Anderungen der Politik zwang endlich
die gewaltige Vermehrung der deutschen Bevöl=
kerung und die damit zusammenhängende ganz
außerordentliche Steigerung der deutschen See-
interessen, insbesondere des Seehandels. Zum
Schutze dieser Interessen ist die deutsche Kriegs-
flotte durch die Gesetze vom 10. April 1898 und
14. Juni 1900 bedeutend verstärkt und damit
das militärische Machtmittel zur Durchführung
einer Weltmachtpolitik geschaffen worden. Über
die Aufgaben dieser Politik äußerte der Kaiser am
4. Juli 1900 bei dem Stapellauf eines Linien=
schiffs zu Wilhelmshaven: „Der Wellenschlag des
Ozeans klopft mächtig an unseres Volkes Tore
und zwingt es, als ein großes Volk seinen Platz
in der Welt zu behaupten, mit einem Wort, zur
Weltpolitik. Der Ozean ist unentbehrlich für
Deutschlands Größe. Aber der Ozean beweist
auch, daß auf ihm und in der Ferne jenseits von
ihm ohne Deutschland und ohne den Deutschen
Kaiser keine große Entscheidung mehr fallen darf.
Ich bin nicht der Meinung, daß unser deutsches
Volk vor 30 Jahren unter der Führung seiner
Fürsten gesiegt und geblutet hat, um sich bei
großen auswärtigen Entscheidungen beiseite schie-
ben zu lassen. Geschähe das, so wäre es ein für
allemal mit der Weltmachtstellung des deutschen
Volkes vorbei, und Ich bin nicht gewillt, es dazu
kommen zulassen. Hierfür die geeigneten, und wenn
es sein muß, auch die schärfsten Mittel rücksichtslos
anzuwenden, ist Meine Pflicht nur, Mein schönstes
Vorrecht.“ — 3) Die Bezeichnung des Bundes-
präsidiums als Kaiser entsprach nicht der deutschen
Volksauffassung, wie sie sich in den letzten Jahr-
hunderten des römischen Kaisertums deutscher
Nation gebildet hatte, denn diese legte den Kaiser-
titel einer monarchischen Gewalt bei. Dieses
Widerspruches zwischen Bezeichnung und Inhalt
des kaiserlichen Amtes war man sich bei Grün-
dung des Reichs wohl bewußt. Bismarck bemerkt
in seinen „Gedanken und Erinnerungen“, die An-
nahme des Keisertitels sei ein politisches Be-
dürfnis gewesen, weil er in den Erinnerungen aus
Zeiten, da er rechtlich mehr, faktisch weniger als
heute zu bedeuten hatte, ein werbendes Element
für Einheit und Zentralisation bildete. Der Groß-
herzog von Baden äußerte am 9. Dez. 1870:
der heute scheinbar leere Kaisertitel werde bald
genug zur vollen Bedeutung gelangen, und Kron-
prinz Friedrich (vgl. dessen Tagebuch) erinnerte
noch am Tage vor der Kaiserproklamation in Ver-
sailles in einer Erörterung mit König Wilhelm I.
über die Bedeutung der Kaiserwürde daran, daß
auch Friedrich I. ein Scheinkönigtum geübt habe,
und daß dasselbe später doch so mächtig geworden
sei, worauf König Wilhelm, der sich früher gegen
Kaiser.
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den „Charakter-Major“ gesträubt hatte, erwiderte:
der Kronprinz und dessen Nachkommen seien be-
rufen, das gegenwärtig hergestellte Reich zur
Wahrheit zu machen. Die bisherige Politik und
Gesetzgebung des Reichs scheint dieser Prophezei-
ung zu entsprechen, denn ihr Kurs geht in der
Richtung zum Einheitsstaat, und der Zuwachs
an Rechten, welche das Kaisertum erfahren hat,
trägt unverkennbar einen monarchischen Charakter:
a) Die Bedeutung des Reichs hat mächtig zu-
genommen, die der Einzelstaaten abgenommen.
Die fortschreitende, immer weitere Gebiete um-
spannende Reichsgesetzgebung drängt die Einzel-
staaten mehr und mehr in die Rolle bloßer Aus-
führungsorgane und Verwaltungskörper. Die
Verstärkung des Heeres und der Kriegsflotte und
die hierzu erforderliche Steigerung der militäri-
chen Ausgaben schwächt die Finanzkräfte der
Einzelstaaten. Die Entfaltung der Weltmacht-
politik stellt die kleineren Staaten vollends in den
Schatten. Im Innern wirken die sozialen und
wirtschaftlichen Kampfesfragen zentralisierend, da
ihre Lösung nur im großen, im Reich erfolgen
kann. Dazu kommt, daß im Bundesrate neben
der vorwiegenden Tätigkeit Preußens die Mit-
wirkung der übrigen Regierungen vielfach nur
einen formellen Charakter trägt, wie die mehr-
fachen öffentlichen Mitteilungen des früheren
württembergischen Staatsministers v. Mittnacht
klar erkennen lassen. Der diplomatische Ausschuß
des Bundesrates, den man sich als ein gewisses
Korrektiv gegen verhängnisvolle Entschließungen
in der auswärtigen Politik gedacht hat, tritt
fast nie zusammen. Nicht minder auffallend ist
die Beharrlichkeit, mit welcher der Kaisertitel
im diplomatischen Sprachgebrauch der Staats-
verträge immer wieder falsch übersetzt wird als
Empereur d’Allemagne, Imperatore di Ger-
mania, Emperador de Alemania. — b) Wäh-
rend der erhöhte strafrechtliche Schutz gegen Hoch-
verrat und Beleidigung, welchen das R. Str. G. B.
in §§ 80, 94, 95 für den Keiser einführte,
sich immerhin aus der amtlichen Stellung des-
selben noch erklären läßt, ist das Begnadigungs-
recht, welches dem Kaiser durch die R. Str. P.O.
vom 1. Febr. 1877 (§ 484) und durch das
Reichsgesetz über die Konsulargerichtsbarkeit vom
10. Juli 1879 (§ 42) in den vom Reichs-
gericht in einziger Instanz (Ausnahmegericht für
Hoch= und Landesverrat gegen Kaiser und Reich!)
und vom Konsul oder Konsulargericht in erster
Instanz abgeurteilten Strassachen übertragen wor-
den ist, wesentlich im Sinne eines monarchischen
Rechts gestaltet. — c) Durch die Reichsgesetze
vom 9. Juni 1871 und 17. April 1886 ist
dem Kaiser die Ausübung der Staatsgewalt in
Elsaß-Lothringen und in den deutschen Schutz-
gebieten übertragen worden. Diese Ausübung
der Staatsgewalt findet allerdings statt im
Namen des Reichs; aber bei Elsaß-Lothringen
ist die Mitwirkung des Bundesrates und des
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