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vermochte. Unstreitig war die Lage für Fenelons
Stellung günstiger, nicht hinsichtlich der Person
Ludwigs XIV., aber hinsichtlich der Umgebung
seines Zöglings.
Im Jahre 1689 hielt der König noch in vollem
Ruhmesglanze, trotz des gesteigerten Volkselendes,
gegen die Ligue von Augsburg den Kampf auf-
recht, welchen erst acht Jahre später der Friede
von Ryswyk beenden sollte. Die Periode der
Selbstvergötterung, des Stolzes, der ungerechten
Kriege war noch nicht vorüber und die der De-
mütigungen, Niederlagen, des großen Sterbens
im Königshause, die Vereinsamung in der Ver-
sailler Pracht war noch nicht gekommen; immerhin
war die öffentliche Schmach der sittenlosen Hof-
skandale nun seit mehreren Jahren beendet. Frau
von Maintenon war seit 1684 die Gattin des
Königs, die bedeutendste Frau der französischen
Geschichte (vgl. Döllinger, Akademische Vorträge 1
18887 326 ff). Um sie hatte sich ein kleiner Kreis
ernster, sittenreiner Hoffamilien geschart, dessen
Mittelpunkt die drei Töchter Colberts, die Her-
zoginnen von Beauvilliers, von Chevreuse, von
Mortemart, letztere schon Witwe, waren und deren
Berater Fenelon durch seine Freundschaft mit den
Herzogen von Beauvilliers und Chevreuse wurde.
Indiesem „Heiligtum“ am Hofe, wie La Bruyère es
beobachtete, in der „kleinen Gemeinde“, die Saint-
Simon bis in die kleinsten Eigenheiten schildert,
wuchs der Herzog von Burgund aufs, mit
sieben Jahren schon ein Schreckenskind, bestimmt
nach dem bourbonischen Hausgesetz, der absolute
König von Frankreich zu werden. — Fenelons
Aufgabe war wohl die schwerste, die je einem Für-
stenerzieher gestellt war. Sein Zögling, schreibt
Saint-Simon als unmittelbarer Beobachter, war
von Natur hart, abstoßend, jähzornig bis zur Sinn-
losigkeit gegen leblose Dinge, unfähig, von seiner
Umgebung den geringsten Widerstand zu dulden,
eigensinnig bis zum Ubermaß, leidenschaftlich für
Sinnengenuß, roh und wild, zur Grausamkeit
geneigt, im Spott ein Barbar, von frecher Ver-
achtung für seine Umgebung, kurz, ein Schreckens-
kind, dem überdies das gefährliche Geschenk einer
seltenen geistigen Regsamkeit und Begabung zu-
gefallen war. Am Hofe bangte man für die Zu-
kunft und verfolgte das Erziehungswerk Fenelons
mit einer Spannung, die mit jedem Tage wuchs.
Fenelon ging von der genauen und unablässigen
Beobachtung des Dauphin in all seinen Lebens-
äußerungen aus; allen Wendungen und Regungen
seines leidenschaftlichen Temperaments mit Ruhe
und vollendeter Geduld folgend, machte er den ent-
deckten, nun offen liegenden Fehler zur Unterlage
seiner Erziehungskunst; diese ging weniger
wie bei Bossuet von der Bildung der Intelligenz
als von der des Willens, dem Prinzip des Gut-
seins, Gutdenkens und Guthandelns, aus. Von
seinen Arbeiten aus dieser Periode seines Wir-
kens sind außer den Aventures de Télémaque
(vollständig bekannt erst seit 1717) leider nur
Fénelon.
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Bruchstücke, und diese nur unvollständig erhalten:
Fables (bis 1823 nur 36), Dialogues des morts
(bis 1823: 93 gedruckt); die Vie de Charle--
magne ging im Brand des erzbischöflichen Hauses
zu Cambrai (1697) zugrunde. Aber selbst dieses
wenige trägt das Gepräge seiner genialen Kunst
scharf und bestimmt an sich. Besonders in den
Aventures de Telémaque suchte Fenelon durch
die systematische Anregung des Nachdenkens auf
die Regierungskunst als solche hinzulenken, indem
er diese dem Dauphin in der leichten, spielenden,
die jugendliche Freude an wechselnden Abenteuern
fesselnden Form des den Vater suchenden Sohnes
vorführt. In den Lehren des Mentor und in dem
idealen Salente stellt er ihm den Musterstaat vor
Augen, belehrt ihn über die Gefahren des Luxus,
des Mißbrauchs der Künste, der gewagten Speku-
lationen, der Vergnügungssucht, der Formen der
sittlich-sozialen Auflösung und Entartung, hält
ihm an Protesilas die Maske Louvois', an Ido-
meneus die Ludwigs XIV. vor, die letzteren mit
dem Hinweis auf die Verderbnis des Wohlgefallens
an Schmeichelei, den Hochmut in der Form der
Bauwut, des Eingreifens in religiöse Streitig-
keiten, die Kriegsliebhaberei. Der Telémaque ist
nicht, wie die zeitgenössischen und späteren Klassi-
zisten wollten, eine neue Ilias, nicht eine Fort-
setzung des vierten Buches der Odyssee, auch nicht
ein Roman, wie Bossuet meinte, noch weniger ein
politisches Pamphlet auf Ludwig XIV. und seine
Umgebung (Crousle, s. u.), sondern eine päd-
agogische Allegorie der Regierungskunst für den
zukünftigen Herrscher Frankreichs, eine in die
denkbar leichteste Fabelform gefaßte Regierungs-
lehre in so einfacher, dabei so reizvoller geglätteter
Stilschönheit, besonders bei Naturschilderungen,
daß nach dem Bekanntwerden des Téôlémaque
ganz Europa — so sehr häuften sich in kurzem
die Übersetzungen und Auflagen — davon ent-
zückt war.
Der aus dem Nachwirken der Renaissance
stammende klassizistische Geschmack der Zeit über-
sah gern die formellen Fehler und Schwä-
chen der Fenelonschen Anschauungsweise. Das
erklusiv Heidnische, Mythologische, Hellenistische
drängt das Christliche, nüchtern Verstandesmäßige,
Tatsächliche oft zu sehr zurück; daher jene Zwei-
deutigkeit und Schiefe in Ausdruck und Darstel-
lungsweise, welche Anlaß zu späteren Anklagen
gegen Fénelon geboten haben. Fénelons Selbst-
täuschung bestand darin, um jeden Preis die
hellenische Fabel in einer Regierungstheorie durch-
führen zu wollen, die ganzhristlich sein wollte und
dem Ganzen und der Idee nach es auch war, wenn
auch nicht in allen Einzelheiten.
ber den Erfolg des ganzen Erziehungswerkes
urteilt Saint-Simon aus nächster Anschauung:
„Aus dem Abgrund erhob sich ein Prinz, liebens-
würdig, mild, menschlich, geduldig, bescheiden, voll
Demut und Strenge gegen sich, ganz für seine
Pflichten lebend und deren unermeßliche Bedeu-