145
tung begreifend; er dachte ständig daran, die
Pflichten des Sohnes und der Untertanen mit
denen zu verbinden, für welche er (als Regent) sich
bestimmt sah.“ Und Frau von Maintenon sagt:
„Seit der ersten Kommunion des Herzogs von
Burgund haben wir nach und nach alle Fehler
verschwinden sehen, die uns in seiner Kindheit so
große Sorgen für die Zukunft einflößten. Seine
Fortschritte in der Tugend wurden von Jahr zu
Jahr sichtbar; anfangs verspottet vom ganzen
Hofe, ward er die Bewunderung der Ausgelassen-
sten; er fährt fort, sich Gewalt anzutun, um seine
Fehler vollends zu zerstören. Seine Frömmigkeit
hat ihn dergestalt umgewandelt, daß aus dem
Leidenschaftlichen nun ein Maßvoller, Milder,
Entgegenkommender geworden ist; man könnte
sagen, sein Charakter bestehe darin, daß die Tugend
ihm natürlich ist.“ Das Geheimnis solchen Er-
folges lag in dem heute von der rationalistischen
Pädagogie nicht mehr verstandenen Prinzip: erst
Christ, dann Mensch und König. Fenelons Größe
als Erzieher ruht in der Anwendung des Prinzips
der Unterordnung aller Unterrichts= und Erzie-
hungsmittel unter die christliche Bildung des
Willens, der Zentralkraft des Geistes, welche
allein der Verstandestätigkeit das Ziel, die nimmer
müde Regsamkeit des Aufmerkens, die Energie,
Dauer und Gleichmäßigkeit der Anstrengung zu
weisen vermag.
Während der ganze Hof von Bewunderung für
die steigenden Erfolge Fenelons hingerissen wurde,
blieb Fenelon derselbe zurückgezogene, uneigen-
nützige, keinerlei Gunst für sich oder seine Ver-
wandten suchende Sulpizianer, der nur von den
Einkünften der Abtei Carenac lebte, die er mit
seinen verarmten Angehörigen teilte. Am 31. März
1693 war er aufs glänzendste in die französische
Akademie aufgenommen worden, der er in seinem
Remerciment einen überblick über die in der
zweiten Hälfte des 17. Jahrh. erzielten Fortschritte
der Sprache widmete. Bald darauf übertrug ihm
der König die Abtei Saint-Valery. Auch der be-
ginnende sog. quietistische Streit über die Zustände
des innern beschaulichen Lebens vermochte bis zur
Mitte des Jahres 1695 so wenig die freund-
schaftlichen Beziehungen zum Hofe zu trüben, daß
Ludwig XIV. ihn zum Erzbischof von Cam-
brai ernannte und Bossuet ihn unter Anwesenheit
des Hofes in der Kapelle zu St-Cyr konsekrieren
konnte (10. Juni 1695). Bei seiner Ernennung
hatte sich der König ausdrücklich die Weiterführung
der Erziehung seiner Enkel durch Fénelon vor-
behalten. Erst mit dem Erscheinen der Selbst-
rechtfertigung Fenelons in der bekannten Expli-
cation des Maximes des Saints sur la vie
intérieur (Ende Jan. 1697) und der tief ein-
schneidenden Verurteilung derselben in Bossuets
alsbald erscheinenden theologisch überlegenen
Schrift Instruction sur les états d’oraison
zeigte sich bei Hof eine steigende Erregung gegen
ihn. Fénelon hatte schon am 27. April dieses
Fénelon.
146
Jahres an den Apostolischen Stuhl appelliert unter
Billigung des Königs; die Bitte, in Rom seine
Angelegenheit persönlich verteidigen zu dürfen,
wurde abgeschlagen (16. Juli), er selbst vom Hofe
in seine Diözese verwiesen. Nur die Fortführung
des Titels „Erzieher der Prinzen“ wurde gestattet.
Schon am 1. Aug. 1697 verließ Fénelon Ver-
sailles, um nie wieder zurückzukehren.
Bot auch der aquietistische Streit den Anlaß zur
Entfernung Fénelons vom Hofe, der wirkliche
Grund, welcher diese Entfexnung zu einer so jähen,
harten, unwiderruflichen i erbannung machte,
war der tief innere Gegensatz zwischen den An-
schauungen Fénelons und denen des Königs. Die
Zurückgezogenheit, der Adel der Persönlichkeit,
der Freimut und Ernst in der Beurteilung der
Personen und Dinge, das uneingeschränkte Ver-
trauen der maßgebenden Hoschargen hatten Fene-
lon dem König und seinen Schmeichlern entfremdet.
Schond'Alembert wies entgegen den vielen müßigen
Konjekturen über diese Erscheinung darauf hin,
daß die große Häresie Fenelons zeitlebens weniger
auf dem Gebiet der Theologie als dem der Politik
gelegen habe. Der König hatte Fénelon öffentlich
als „den größten Schöngeist und den größten
Abenteurer“ (le plus chimérique) seines Reiches
bezeichnet. Dieser Gegensatz war nun offenkundig,
und wir möchten unserseits zum Beweise seiner
Unheilbarkeit auf die gerade um diese Zeit ent-
standene, so viel besprochene Lettre anonyme à
Louis XIV über dessen Person und Politik hin-
weisen.
Daß dieser Brief, geschrieben zwischen 1691
und 1697, authentisch ist (s. u.), unterliegt keinem
begründeten Zweifel; ob er durch den Herzog von
Beauvilliers übergeben wurde, bleibt unwahr-
scheinlich, sowohl wegen einzelner in demselben vor-
kommenden persönlichen Anspielungen heftiger Art
auf den König als namentlich wegen der Auffor-
derung an dessen Ratgeber, als solche zurückzutreten.
Immerhin ist der Brief ein denkwürdiges Zeugnis
über die Lage der französischen Mon-
archie nach dem Ausbruch des Krieges gegen
Holland (1672), von dem alle Erwägungen
und Vorstellungen des Briefes ausgehen. „Seit
30 Jahren“, heißt es dort, „haben Ihre vor-
nehmsten Minister alle Grundpfeiler des Staates
vorab erschüttert und dann umgestürzt, um die
Machtvollkommenheit des Königs, die in den
Händen der Minister deren Eigentum geworden,
bis auf die höchste Stufe zu steigern. Sogar die
Sprache änderte sich bei Hofe: kein Wort mehr
von Staat und Staatsgesetz, nur noch von König
und von Königswillen.“ Die Steigerung der Ein-
nahmen und Ausgaben ins Ungemessene, der Ruin
der Stände, „die wahre Grundlage aller königlichen
Größe"“, die unumschränkte Machtvollkommenheit
der Ressortminister, die Intendantenwirtschaft mit
ihrer „harten, stolzen, ungerechten, gewalttätigen
Bezirksregierung“, nach außen die ungerechten
Kriege, deren Eroberungen durch erzwungene