Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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tung begreifend; er dachte ständig daran, die 
Pflichten des Sohnes und der Untertanen mit 
denen zu verbinden, für welche er (als Regent) sich 
bestimmt sah.“ Und Frau von Maintenon sagt: 
„Seit der ersten Kommunion des Herzogs von 
Burgund haben wir nach und nach alle Fehler 
verschwinden sehen, die uns in seiner Kindheit so 
große Sorgen für die Zukunft einflößten. Seine 
Fortschritte in der Tugend wurden von Jahr zu 
Jahr sichtbar; anfangs verspottet vom ganzen 
Hofe, ward er die Bewunderung der Ausgelassen- 
sten; er fährt fort, sich Gewalt anzutun, um seine 
Fehler vollends zu zerstören. Seine Frömmigkeit 
hat ihn dergestalt umgewandelt, daß aus dem 
Leidenschaftlichen nun ein Maßvoller, Milder, 
Entgegenkommender geworden ist; man könnte 
sagen, sein Charakter bestehe darin, daß die Tugend 
ihm natürlich ist.“ Das Geheimnis solchen Er- 
folges lag in dem heute von der rationalistischen 
Pädagogie nicht mehr verstandenen Prinzip: erst 
Christ, dann Mensch und König. Fenelons Größe 
als Erzieher ruht in der Anwendung des Prinzips 
der Unterordnung aller Unterrichts= und Erzie- 
hungsmittel unter die christliche Bildung des 
Willens, der Zentralkraft des Geistes, welche 
allein der Verstandestätigkeit das Ziel, die nimmer 
müde Regsamkeit des Aufmerkens, die Energie, 
Dauer und Gleichmäßigkeit der Anstrengung zu 
weisen vermag. 
Während der ganze Hof von Bewunderung für 
die steigenden Erfolge Fenelons hingerissen wurde, 
blieb Fenelon derselbe zurückgezogene, uneigen- 
nützige, keinerlei Gunst für sich oder seine Ver- 
wandten suchende Sulpizianer, der nur von den 
Einkünften der Abtei Carenac lebte, die er mit 
seinen verarmten Angehörigen teilte. Am 31. März 
1693 war er aufs glänzendste in die französische 
Akademie aufgenommen worden, der er in seinem 
Remerciment einen überblick über die in der 
zweiten Hälfte des 17. Jahrh. erzielten Fortschritte 
der Sprache widmete. Bald darauf übertrug ihm 
der König die Abtei Saint-Valery. Auch der be- 
ginnende sog. quietistische Streit über die Zustände 
des innern beschaulichen Lebens vermochte bis zur 
Mitte des Jahres 1695 so wenig die freund- 
schaftlichen Beziehungen zum Hofe zu trüben, daß 
Ludwig XIV. ihn zum Erzbischof von Cam- 
brai ernannte und Bossuet ihn unter Anwesenheit 
des Hofes in der Kapelle zu St-Cyr konsekrieren 
konnte (10. Juni 1695). Bei seiner Ernennung 
hatte sich der König ausdrücklich die Weiterführung 
der Erziehung seiner Enkel durch Fénelon vor- 
behalten. Erst mit dem Erscheinen der Selbst- 
rechtfertigung Fenelons in der bekannten Expli- 
cation des Maximes des Saints sur la vie 
intérieur (Ende Jan. 1697) und der tief ein- 
schneidenden Verurteilung derselben in Bossuets 
alsbald erscheinenden theologisch überlegenen 
Schrift Instruction sur les états d’oraison 
zeigte sich bei Hof eine steigende Erregung gegen 
ihn. Fénelon hatte schon am 27. April dieses 
Fénelon. 
  
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Jahres an den Apostolischen Stuhl appelliert unter 
Billigung des Königs; die Bitte, in Rom seine 
Angelegenheit persönlich verteidigen zu dürfen, 
wurde abgeschlagen (16. Juli), er selbst vom Hofe 
in seine Diözese verwiesen. Nur die Fortführung 
des Titels „Erzieher der Prinzen“ wurde gestattet. 
Schon am 1. Aug. 1697 verließ Fénelon Ver- 
sailles, um nie wieder zurückzukehren. 
Bot auch der aquietistische Streit den Anlaß zur 
Entfernung Fénelons vom Hofe, der wirkliche 
Grund, welcher diese Entfexnung zu einer so jähen, 
harten, unwiderruflichen i erbannung machte, 
war der tief innere Gegensatz zwischen den An- 
schauungen Fénelons und denen des Königs. Die 
Zurückgezogenheit, der Adel der Persönlichkeit, 
der Freimut und Ernst in der Beurteilung der 
Personen und Dinge, das uneingeschränkte Ver- 
trauen der maßgebenden Hoschargen hatten Fene- 
lon dem König und seinen Schmeichlern entfremdet. 
Schond'Alembert wies entgegen den vielen müßigen 
Konjekturen über diese Erscheinung darauf hin, 
daß die große Häresie Fenelons zeitlebens weniger 
auf dem Gebiet der Theologie als dem der Politik 
gelegen habe. Der König hatte Fénelon öffentlich 
als „den größten Schöngeist und den größten 
Abenteurer“ (le plus chimérique) seines Reiches 
bezeichnet. Dieser Gegensatz war nun offenkundig, 
und wir möchten unserseits zum Beweise seiner 
Unheilbarkeit auf die gerade um diese Zeit ent- 
standene, so viel besprochene Lettre anonyme à 
Louis XIV über dessen Person und Politik hin- 
weisen. 
Daß dieser Brief, geschrieben zwischen 1691 
und 1697, authentisch ist (s. u.), unterliegt keinem 
begründeten Zweifel; ob er durch den Herzog von 
Beauvilliers übergeben wurde, bleibt unwahr- 
scheinlich, sowohl wegen einzelner in demselben vor- 
kommenden persönlichen Anspielungen heftiger Art 
auf den König als namentlich wegen der Auffor- 
derung an dessen Ratgeber, als solche zurückzutreten. 
Immerhin ist der Brief ein denkwürdiges Zeugnis 
über die Lage der französischen Mon- 
archie nach dem Ausbruch des Krieges gegen 
Holland (1672), von dem alle Erwägungen 
und Vorstellungen des Briefes ausgehen. „Seit 
30 Jahren“, heißt es dort, „haben Ihre vor- 
nehmsten Minister alle Grundpfeiler des Staates 
vorab erschüttert und dann umgestürzt, um die 
Machtvollkommenheit des Königs, die in den 
Händen der Minister deren Eigentum geworden, 
bis auf die höchste Stufe zu steigern. Sogar die 
Sprache änderte sich bei Hofe: kein Wort mehr 
von Staat und Staatsgesetz, nur noch von König 
und von Königswillen.“ Die Steigerung der Ein- 
nahmen und Ausgaben ins Ungemessene, der Ruin 
der Stände, „die wahre Grundlage aller königlichen 
Größe"“, die unumschränkte Machtvollkommenheit 
der Ressortminister, die Intendantenwirtschaft mit 
ihrer „harten, stolzen, ungerechten, gewalttätigen 
Bezirksregierung“, nach außen die ungerechten 
Kriege, deren Eroberungen durch erzwungene
	        
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