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wirtschaftlichen und geistigen Interessen des Volkes
sich kümmerte, wäre die Folge davon. Ein der-
artiger Staat hätte eine bloße „Nachwächteridee“
zugrunde liegen nach Lassalles witziger Bemerkung,
wäre aber weit entfernt, der wahrhaften Idee des
Staates zu entsprechen (ogl. zur näheren Aus-
führung und Begründung hiervon die Abhand-
lung von Viktor Cathrein 8. J.: Die Aufgaben
der Staatsgewalt und ihre Grenzen (1882)).
Kant hat diese Konsequenzen, die sich folgerichtig
aus seinem Staatsbegriff ergeben würden, nicht
gezogen. Er hat im Gegenteil, beeinflußt von den
ungeschichtlichen Nivellierungstendenzen seiner Zeit,
dem Staate eine die korporativen Privatrechte tief
schädigende Macht beigelegt. So wenn er dem
Staate das Recht zusprach, alle Stiftungen für
Arme, Kranke, Kirchen und Schulen, alle Ma-
jorate usw. beliebig zu sequestrieren, wie und wann
es ihm die Zeitumstände nahelegen, ja sie am Ende
für immer zu abolieren.
Der Staat entsteht nach Kant, wie oben schon
erörtert worden, auf mechanisch-atomistische Weise
durch den vereinigten Willen aller vermittelst des
Staatsvertrages. Ubrigens wird dieser Staats-
vertrag, sei es der ausdrückliche oder stillschwei-
gende, hier nicht wie bei früheren Naturrechts-
lehrern (Hugo Grotius, Hobbes, Pufendorf, Locke,
Sidney, Rousseau) als Tatsache vorausgesetzt,
sondern nur als eine Idee, ein Sollen, falls der
Stand der Dinge ein vollkommener wäre. Die
Vertragsidee hat bei Kant, wie die „Vernunft-
ideen“ überhaupt, keine konstitutive, sondern eine
regulative Bedeutung. Aber der christlichen An-
schauung ist der Staat doch zugleich ein ethischer
Organismus von Gottes Gnaden, und auch die
Staatsgewalt im allgemeinen ist somit von Gottes
Gnaden; der Staatsvertrag könnte oder kann
unter gewissen historischen Umständen nur den
Träger dieser Gewalt bestimmen und nicht mehr
als dieses.
Die Kantsche Lehre vom Staatsvertrag leidet
aber außerdem noch an gar mancherlei Inkon-
sequenzen. Er soll z. B. der Idee nach durch den
vereinigten Willen aller zustande kommen. Wie
reimt sich aber hiermit der Ausschluß aller bloß
passiven Staatsbürger (Unmündigen, Frauen,
Dienstboten, Gesellen, Arbeiter usw.), welche doch
die weitaus größere Mehrzahl des Volkes bilden?
Nur den aktiven Staatsbürgern, also einer sehr
beschränkten Allheit, soll die wirkliche Souveräni-
tät zukommen, und dieser Allheit soll in den mei-
sten Fällen wiederum eine bloße Mehrheit zum
genügenden Ersatz dienen, da eine Einhelligkeit
der Stimmen in der Regel unerreichbar ist (da. a. O.
206, 207). Auf einen wie kleinen Bruchteil der
Bevölkerung schrumpft somit nicht das souveräne
Volk zusammen! Al diese Inkonsequenzen sind
nur dadurch zu vermeiden, daß statt eines atomi-
stischen Allheitswillens ein Allgemeinwille im Sinne
einer organischen Staatslehre an die Spitze ge-
stellt wird, daß ferner von diesem ideal zu fassen-
Kant.
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den Allgemeinwillen die Organe genau unter-
schieden werden, die ihn behufs der Ausübung der
gesetzgebenden und weiterhin auch der regierenden,
richterlichen und militärisch-exekutiven Gewalt zum
Ausdruck bringen und nach der Natur der histo-
rischen Verhältnisse sehr mannigfach sein können.
Ebenso unbefriedigend wie die Staatsidee
Kants ist auch dessen Lehre von der idealen
Staatsverfassung. Mit dem Prinzip republi-
kanischer Volkssouveränität sucht er nämlich weit-
gehenden Despotismus zu vereinbaren. Kein
Wunder, daß manche Schriftsteller hierin einen
völlig unlösbaren Widerspruch erblickten, welchen
sie dem „alternden“ Kant auf Rechnung schrieben.
Dieser Widerspruch ist indessen nichts weniger als
ein unlösbarer und erklärt sich, wie schon oben
erinnert, aus den wechselnden Einwirkungen der
Zeitgeschichte. Einerseits schwärmte Kant für die
Volkssouveränitätslehre eines Montesquien, Rous-
seau, für die „Deklaration der Menschenrechte",
für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im
Sinne der französischen Revolution: so kam er da-
zu, dem Volke die konstituierende, gesetzgebende
Gewalt in die Hände zu geben und jeden Wider-
stand gegen den souveränen Willen desselben als
Unrecht zu verurteilen. Anderseits hatten die Er-
eignisse der französischen Revolution erschütternd
auf ihn eingewirkt: so kam er dazu, dem Volke
nur ein ideales Recht dem ihm untergeordneten
Regenten gegenüber zu verleihen, diesem allein
aber ein Zwangsrecht, und zwar ein unbedingtes,
so daß jeder gegen letzteres verstoßende Widerstand
als unberechtigt gilt, insbesondere von seiten der
Untertanen, und zwar nicht bloß der aktive Wider-
stand von seiten derselben, was ganz und gar an-
zuerkennen wäre, sondern auch jeder passive. Der
Satz Hobbes', das Staatsoberhaupt könne dem
Bürger gar kein Unrecht tun, erscheint Kant im
allgemeinen als erschrecklich; doch pflichtet er dessen
Lehre bei, daß der Bürger einem solchen Unrecht
niemals zwangsweisen Widerstand entgegensetzen
dürfe (a. a. O. 215, 216). Insofern überbietet
er sogar Hobbes; denn in religiösen Dingen ge-
stattet selbst dieser noch passiven Widerstand (De
cive c. 15/18), während Samuel Pufendorf in
solchen Fällen statt des passiven Widerstandes die
Auswanderung oder Flucht anempfiehlt, ja vor-
schreibt (Oe iure naturae et gentium 1. 7, c. 8,
·½
5).
Um so befriedigender ist aber die Auffassung,
welche Kant von der richterlichen Strafgewalt
des Staates hatte, indem er das Prinzip der
vergeltenden Gerechtigkeit hier zum leitenden
machte, wie später Hegel. Die Verurteilung,
welche dieselbe durch die Abschreckungstheorie
Feuerbachs erfahren, gebührt vielmehr der letzteren
selber. Doch auch die richterliche Gewalt wäre
gleich der gesetzgebenden und regierenden eines
Mißbrauchs fähig (jede in ihrer Sphäre) und
ebenso die staatliche Gewalt in ihren völkerrecht-
lichen Beziehungen. Und nirgends dürfte hier,
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