Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1605 
wirtschaftlichen und geistigen Interessen des Volkes 
sich kümmerte, wäre die Folge davon. Ein der- 
artiger Staat hätte eine bloße „Nachwächteridee“ 
zugrunde liegen nach Lassalles witziger Bemerkung, 
wäre aber weit entfernt, der wahrhaften Idee des 
Staates zu entsprechen (ogl. zur näheren Aus- 
führung und Begründung hiervon die Abhand- 
lung von Viktor Cathrein 8. J.: Die Aufgaben 
der Staatsgewalt und ihre Grenzen (1882)). 
Kant hat diese Konsequenzen, die sich folgerichtig 
aus seinem Staatsbegriff ergeben würden, nicht 
gezogen. Er hat im Gegenteil, beeinflußt von den 
ungeschichtlichen Nivellierungstendenzen seiner Zeit, 
dem Staate eine die korporativen Privatrechte tief 
schädigende Macht beigelegt. So wenn er dem 
Staate das Recht zusprach, alle Stiftungen für 
Arme, Kranke, Kirchen und Schulen, alle Ma- 
jorate usw. beliebig zu sequestrieren, wie und wann 
es ihm die Zeitumstände nahelegen, ja sie am Ende 
für immer zu abolieren. 
Der Staat entsteht nach Kant, wie oben schon 
erörtert worden, auf mechanisch-atomistische Weise 
durch den vereinigten Willen aller vermittelst des 
Staatsvertrages. Ubrigens wird dieser Staats- 
vertrag, sei es der ausdrückliche oder stillschwei- 
gende, hier nicht wie bei früheren Naturrechts- 
lehrern (Hugo Grotius, Hobbes, Pufendorf, Locke, 
Sidney, Rousseau) als Tatsache vorausgesetzt, 
sondern nur als eine Idee, ein Sollen, falls der 
Stand der Dinge ein vollkommener wäre. Die 
Vertragsidee hat bei Kant, wie die „Vernunft- 
ideen“ überhaupt, keine konstitutive, sondern eine 
regulative Bedeutung. Aber der christlichen An- 
schauung ist der Staat doch zugleich ein ethischer 
Organismus von Gottes Gnaden, und auch die 
Staatsgewalt im allgemeinen ist somit von Gottes 
Gnaden; der Staatsvertrag könnte oder kann 
unter gewissen historischen Umständen nur den 
Träger dieser Gewalt bestimmen und nicht mehr 
als dieses. 
Die Kantsche Lehre vom Staatsvertrag leidet 
aber außerdem noch an gar mancherlei Inkon- 
sequenzen. Er soll z. B. der Idee nach durch den 
vereinigten Willen aller zustande kommen. Wie 
reimt sich aber hiermit der Ausschluß aller bloß 
passiven Staatsbürger (Unmündigen, Frauen, 
Dienstboten, Gesellen, Arbeiter usw.), welche doch 
die weitaus größere Mehrzahl des Volkes bilden? 
Nur den aktiven Staatsbürgern, also einer sehr 
beschränkten Allheit, soll die wirkliche Souveräni- 
tät zukommen, und dieser Allheit soll in den mei- 
sten Fällen wiederum eine bloße Mehrheit zum 
genügenden Ersatz dienen, da eine Einhelligkeit 
der Stimmen in der Regel unerreichbar ist (da. a. O. 
206, 207). Auf einen wie kleinen Bruchteil der 
Bevölkerung schrumpft somit nicht das souveräne 
Volk zusammen! Al diese Inkonsequenzen sind 
nur dadurch zu vermeiden, daß statt eines atomi- 
stischen Allheitswillens ein Allgemeinwille im Sinne 
einer organischen Staatslehre an die Spitze ge- 
stellt wird, daß ferner von diesem ideal zu fassen- 
Kant. 
  
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den Allgemeinwillen die Organe genau unter- 
schieden werden, die ihn behufs der Ausübung der 
gesetzgebenden und weiterhin auch der regierenden, 
richterlichen und militärisch-exekutiven Gewalt zum 
Ausdruck bringen und nach der Natur der histo- 
rischen Verhältnisse sehr mannigfach sein können. 
Ebenso unbefriedigend wie die Staatsidee 
Kants ist auch dessen Lehre von der idealen 
Staatsverfassung. Mit dem Prinzip republi- 
kanischer Volkssouveränität sucht er nämlich weit- 
gehenden Despotismus zu vereinbaren. Kein 
Wunder, daß manche Schriftsteller hierin einen 
völlig unlösbaren Widerspruch erblickten, welchen 
sie dem „alternden“ Kant auf Rechnung schrieben. 
Dieser Widerspruch ist indessen nichts weniger als 
ein unlösbarer und erklärt sich, wie schon oben 
erinnert, aus den wechselnden Einwirkungen der 
Zeitgeschichte. Einerseits schwärmte Kant für die 
Volkssouveränitätslehre eines Montesquien, Rous- 
seau, für die „Deklaration der Menschenrechte", 
für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im 
Sinne der französischen Revolution: so kam er da- 
zu, dem Volke die konstituierende, gesetzgebende 
Gewalt in die Hände zu geben und jeden Wider- 
stand gegen den souveränen Willen desselben als 
Unrecht zu verurteilen. Anderseits hatten die Er- 
eignisse der französischen Revolution erschütternd 
auf ihn eingewirkt: so kam er dazu, dem Volke 
nur ein ideales Recht dem ihm untergeordneten 
Regenten gegenüber zu verleihen, diesem allein 
aber ein Zwangsrecht, und zwar ein unbedingtes, 
so daß jeder gegen letzteres verstoßende Widerstand 
als unberechtigt gilt, insbesondere von seiten der 
Untertanen, und zwar nicht bloß der aktive Wider- 
stand von seiten derselben, was ganz und gar an- 
zuerkennen wäre, sondern auch jeder passive. Der 
Satz Hobbes', das Staatsoberhaupt könne dem 
Bürger gar kein Unrecht tun, erscheint Kant im 
allgemeinen als erschrecklich; doch pflichtet er dessen 
Lehre bei, daß der Bürger einem solchen Unrecht 
niemals zwangsweisen Widerstand entgegensetzen 
dürfe (a. a. O. 215, 216). Insofern überbietet 
er sogar Hobbes; denn in religiösen Dingen ge- 
stattet selbst dieser noch passiven Widerstand (De 
cive c. 15/18), während Samuel Pufendorf in 
solchen Fällen statt des passiven Widerstandes die 
Auswanderung oder Flucht anempfiehlt, ja vor- 
schreibt (Oe iure naturae et gentium 1. 7, c. 8, 
·½ 
5). 
Um so befriedigender ist aber die Auffassung, 
welche Kant von der richterlichen Strafgewalt 
des Staates hatte, indem er das Prinzip der 
vergeltenden Gerechtigkeit hier zum leitenden 
machte, wie später Hegel. Die Verurteilung, 
welche dieselbe durch die Abschreckungstheorie 
Feuerbachs erfahren, gebührt vielmehr der letzteren 
selber. Doch auch die richterliche Gewalt wäre 
gleich der gesetzgebenden und regierenden eines 
Mißbrauchs fähig (jede in ihrer Sphäre) und 
ebenso die staatliche Gewalt in ihren völkerrecht- 
lichen Beziehungen. Und nirgends dürfte hier, 
51“
	        
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