Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Friedensschlüsse nicht legitimiert werden, deren 
Notwendigkeit nie bewiesen werden kann, auch 
nicht durch den Vorwand „der besseren Sicherung 
der Grenzen“, haben seit mehr als 20 Jahren, seit 
den Greueln des Hollandkrieges (1672), Frank- 
reich aufs tiefste zerrüttet. „Die Sicherung der 
Grenzen müssen Sie sich verschaffen durch Klug- 
heit in Ihren Allianzen, durch Maßhalten in Ihren 
Forderungen und durch Befestigung tauglicher 
Plätze auf Ihrem eigenen Gebiet.“ In Europa 
herrsche der Diktaturzustand, der unbillige und 
ungerechte Friedensschlüsse diktiere, um sie will- 
kürlich zu brechen (Reunionskammern) oder zu 
fälschen (Straßburg) und die Fürsten und Völker 
zum alliierten Kampf auf Leben und Tod als der 
einzigen Rettung für Freiheit und Ruhe zu zwingen. 
Im Volke gäre der nur durch die Furcht zurück- 
gehaltene Haß. Das Elend und der Jammer im 
eigenen Land seien unbeschreiblich. „Der Ackerbau 
hat fast keine Hände mehr; Städte und Land ent- 
völkern sich; Handwerk und Kunst verfallen und 
ernähren nicht mehr ihre Arbeiter; der Handels- 
geist ist vernichtet; die Kräfte des Staates schwin- 
den, um im Ausland Eroberungen zu machen und 
sie zu behaupten. Frankreich ist nur noch ein 
großes Spital ohne Nahrungsmittel.“ Die Magi- 
stratur ist verachtet, das Beamtentum steht ratlos 
vor Aufruhrbewegungen; dem König versiegen 
die Kriegsmittel, und doch keine Anderung — nur 
Ruhmesgeschrei. „Und dieser eitle Ruhm ist es, 
der Ihr Herz gefühllos macht; er ist Ihnen lieber 
als die Gerechtigkeit, als Ihre eigene Ruhe, als 
die Erhaltung Ihrer Völker, lieber als Ihr 
eigenes Heil, das mit diesem Sündenruhme un- 
vereinbar ist.“ 
Man hat, um die Schärfe dieser Anklage zu 
erklären, auf den tiefer und tiefer von den ministres 
roturiers gebeugten Stolz des Adels, auf das 
täglich größer werdende Elend in seinen Reihen 
hingewiesen, welches Fénelon sah, ohne helfen zu 
können (Gaillardin, Hist. durègne de Louis XIV, 
Vol. V, 444 sc. 24.). Wir möchten eher in ihr den 
ungestümen Ausbruch des lang zurückgehaltenen 
Unmutes der Verzweiflung an der Rettung seines 
Landes sehen, welcher, in der Form nicht vorwurfs- 
frei, immerhin als gewichtiges Zeugnis eines un- 
bestechlichen Beobachters gelten darf. 
Schweres Leid häufte sich auf den vom Hofe, 
seinen treuen Freunden, seinen Verwandten, seinen 
Lieblingsschöpfungen und Arbeiten verbannten, 
nun vereinsamten Großwürdenträger der Kirche. 
Schmerzvolle Lebensschicksale sollten 
die Seelengröße Fénelons erproben. In Cam- 
brai, inmitten des fremdsprachlichen, damals kaum 
eroberten, ganz vlaemisch und kaiserlich gesinnten 
Landes, inmitten eines allen Umtrieben der Jan- 
senisten und Kalvinisten ausgesetzten, den Eroberern. 
mißtrauenden Klerus, inmitten des geflissentlich 
von ihm ferngehaltenen Beamtentums — nur der 
Gouverneur von Cambrai, Montbéron, machte 
eine ehrenvolle Ausnahme —, mitten unter den 
Fénelon. 
  
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ersten Anstrengungen, seinem schweren Amt gerecht 
zu werden, traf ihn die Nachricht von der Ver- 
urteilung einer Reihe von Sätzen (23) seiner 
Maximes des Saints (12. März 1699) auf dem 
Wege zur Kanzel am Feste Mariä-Verkündigung 
(25. März); er bestieg dieselbe, um sich nach Ver- 
lesung des päpstlichen Breves selbst wie auch in 
einem Hirtenbrief öffentlich (7. April) der Ent- 
scheidung des Papstes „einfach, absolut und ohne 
jeden Schatten des Vorbehaltes“ zu unterwerfen; 
ein Akt, den er in der Versammlung der Bischöfe 
seiner Provinz unter seinem Vorsitz erneuerte, als 
ihm einer dieser Provinzialbischöfe diese Verur- 
teilung vorwarf. Diese Lage erhielt bald eine un- 
geahnte Verschärfung. Schon seit Okt. 1698 zir- 
kulierte in Hofkreisen eine Kopie der bekanntesten 
und populärsten Schrift Fenelons, des Télé- 
maque. Durch die Untreue eines Dieners war 
dieselbe in die Hände der Witwe des Hofdruckers 
Barbin geraten, noch vor Vollendung des Druckes 
wurde das Werk trotz des Druckprivilegs (6. April 
1699) konfisziert und vernichtet, weil man jetzt 
den Beweis der boshaften Diskreditierung der 
Regierung des Königs in Händen haben wollte. 
Die Feindseligkeit gegen Fénelon in den offiziellen 
Kreisen kannte nun keine Schranken mehr; sie 
steigerte sich, je mehr durch holländische Drucke 
Télémaque eine ungeahnt weite und schnelle Ver- 
breitung erlangte. Fenelon schwieg im Vollbewußt- 
sein seiner Würde als Erzieher und als Bischof. 
Erst elf Jahre später (1710) schrieb er P. Le Tellier, 
er habe in der Erzählung dieser Fabel zwar alle 
Wahrheiten vorgebracht, die für eine Regierung 
notwendig seien, und alle Fehler, welche sich bei 
der Souveränität vorfinden können; aber ein volles, 
erkennbares Porträt zu zeichnen, habe er vermieden. 
„Je mehr“, schließt er, „man dieses Werk lesen 
wird, desto mehr wird man sehen, daß ich alles 
habe sagen wollen, ohne eine bestimmte Person 
zu malen.“ Wenn Nisard (Hist. de la litter. 
frang. III, ch. 14, § 8) diese Zurückweisung 
odioser Angriffe bespöttelt, so beweist das nur, daß 
auch ihm der Blick fehlte, das Gold der Wahrheit 
über die Pflichten und die Fehler eines Fürsten 
von der Beimischung des unedlen Metalls satiri- 
scher Kritik zu scheiden. 
Mit wunderbarer, charakterstarker Festigkeit 
richtet sich Fenekon in seiner Vereinsamung und 
unerhörten Anfeindung an der vollendeten, un- 
störbaren und erfolgreichen Ausübung seines 
schweren Hirtenamtes auf. Die Visitations- 
reisen durch seine weite Diözese — sie zählte 
764 Dörfer —, die Sorge für die Priesterbildung, 
die unermüdete Tätigkeit im Predigtamt, sein 
mildes, kluges, bedächtiges, zielbewußtes, von 
autoritativen Maßnahmen nur selten Gebrauch 
machendes, dagegen für seine Rechte und die der 
Bevölkerung mit unerschrockenem Freimut ein- 
tretendes Wesen, seine Wachsamkeit gegen die seine 
Diözese in erster Linie bedrohenden Umtriebe der 
holländischen Kalvinisten und Jansenisten, die
	        
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