151
rechtigkeit. Der Vorwurf hinsichtlich der stets
wiederkehrenden Form der Gewissenserforschung,
des eintönigen Fragens an den Prinzen: „Haben
Sie getan?“" „Haben Sie unterlassen?“ zeugt
von ebenso großer Unwissenheit wie Leichtfertig-
keit. Was regt schärfer zum Nachdenken, zum ehr-
lichen, unumwundenen Urteil, zur ungefälschten
Rechenschaftsablegung an, zumal bei einem christ-
lichen Fürsten? Kleinliches Vorurteil, die Politik
der Moral, dem christlichen Lebensgesetz in solch
aufdringlicher Weise unterzuordnen! rufen andere.
Aber hat etwa die Gewissenserforschung über
„königliche Skandale“ etwas Kleinliches an sich?
„Die Untertanen sind schlimme Nachahmer ihrer
Fürsten, zumal in Dingen, die ihren Leiden-
schaften schmeicheln. Haben Sie ihnen das Bei-
spiel von unehrenhafter und verbrecherischer Liebe
gegeben? Wenn Sie es getan, hat Ihre Autori-
tät die Infamie zu Ehren gebracht, die Schranke
der Scham und Ehrbarkeit niedergebrochen, dem
Laster zum Triumph über die Schamlosigkeit ver-
holfen; Sie haben allen Ihren Untertanen die
Lehre gegeben, nicht mehr zu erröten über das,
was schmachvoll ist: verderbnisvolle Lehre, die sie
nie vergessen werden!“ Ist es klein, dem zukünf-
tigen König den Rat zu geben, vor allen Dingen
sich mit der Erkenntnis des Gesetzes Gottes zu
ersüllen und dann mit den Gesetzen seines Volkes,
nicht das Beispiel des Luxus zu geben, vor allem
keinen Krieg aus rein persönlichem Interesse auf
Kosten seiner Untertanen zu führen? Aus dem
Vorwurf der „Utopie"“ der Unterordnung der
Politik unter die Moral — abgesehen von Ein-
zelheiten der Fragestellung und ihrer Fassung, die
heute, unter ganz andern Verhältnissen, weniger
verständlich sind — spricht Abneigung und Haß
gegen die souveräne Wahrheit und Hoheit des
Christentums in Fragen der Politik. Hinsichtlich
der „Utopie" sei an die Denkschrift von 1710 an
den Herzog von Chevreuse (Corresp. n. 104)
erinnert, worin Fenelon genau in Ubereinstim-
mung mit dem anonymen Brief nachweist, daß
es sich noch immer um denselben Ruhmesschwindel,
dasselbe Despotentum, denselben Hochmut und
dieselbe halbe, geschminkte Frömmigkeit handle
wie früher. Dem trat Fenelon mit dem obersten
Grundsatz der Gewissensleitung des Prinzen ent-
gegen: „Sie werden einst nach dem Evangelium
gerichtet werden, wie der geringste Ihrer Unter-
tanen.“ Als das Examen de conscience 1734
zum erstenmal gedruckt, aber auf Befehl des Mi-
nisteriums sofort konfisziert und vernichtet wurde,
war ein Exemplar in die Hände Ludwigs XVI.
gefallen, dieses tugendsamen Sohnes des laster-
haften Ludwig XV., des unglücklichen, entsetzlich
korrumpierten letzten Sohnes des Herzogs von
Burgund. Der Herzog von Beauvilliers hatte
die Schrift heimlich gerettet, sonst wäre sie wie die
übrigen Papiere und Briefe Fenelons nach dem
Tod des Herzogs verbrannt worden. Als Lud-
wig XVI. dieselbe durch Abbe Toldini veröffent-
Fénelon.
152
lichen ließ, erschien sie mit einem Supplement:
üÜber die Notwendigkeit, sowohl Defensiv= als
Offensiv-Allianzen gegen eine Fremdmacht zu
chließen, welche die Universalmonarchie
erstrebt. „Alles was das Gleichgewicht umstürzt,
was den entscheidenden Anstoß für die Universal-
monarchie gibt, kann nicht gerecht sein“, lautete
Fenelons Entscheidung. Und dem Herzog von
Burgund schärft er als Fund talansch g
des christlichen Völkerrechts gegenüber der scham-
losen Mißachtung desselben durch seine Umgebung
folgende Grundsätze ein: „Wer einmal sich her-
ausnimmt, unter welchem Vorwand es sei, die
Friedensverträge zu erschüttern, wird nie
um Rechtsunterscheidungen verlegen sein, um jeden
Tausch, jede Zession, Schenkung oder Vergütung
und andere Verträge für nichtig zu erklären, auf
denen die Sicherheit und der Friede der Welt be-
ruht; der Krieg wird alsdann ein Übel, für das
es kein Heilmittel mehr gibt. Um der Welt eine
gewisse Festigkeit, der Nation eine gewisse Sicher-
heit ihres Lebens zu geben, muß man zwei Punkte
beachten als die beiden Pole, um welche sich das
ganze öffentliche Leben dreht: einmal ist jeder
Friedensvertrag zwischen zwei Fürsten in Bezug
auf sie unverletzlich und immer in dem natür-
lichen und durch die unmittelbare Ausführung er-
klärten Sinn aufzufassen; weiterhin wird jeder
friedliche und ununterbrochene Besitz seit der Zeit,
welche die Jurisprudenz für die wenigst begün-
stigten Verjährungen fordert, für den, welcher im
Besitze ist, gewisses und berechtigtes Eigentum,
welche Mängel demselben auch bei seinem Ursprung
ankleben mochten. Ohne Beachtung dieser beiden
Normen gibt es für das Menschengeschlecht keine
Ruhe und keine Sicherheit mehr“ (Examen
art. 36).
Durchaus in Übereinstimmung mit diesen die
äußere Politik festlegenden Grundsätzen stehen die
um diese Zeit von einem schottischen Stuartisten,
dem im Hause Fenelons weilenden Konvertiten
Ramsay, aufgezeichneten Außerungen Fenelons
über die innere Staats= und Regie-
rungspolitik. In den Jahren 1709 und
1710 weilte Jakob III., der Prätendent, durch
dessen Anerkennung (18. Sept. 1701) Lud-
wig XIV. die Brandfackel der Zwietracht in das
englische Volk geworfen, auf dem flandrischen
Kriegsschauplatz und suchte bei Fenelon Rat und
Belehrung. Ramsay, der Freund Fenelons und
Zeuge jener intimen Unterredungen, zeichnete die-
selben auf und veröffentlichte sie 1714 im Haag
unter dem Titel Essai de Politique ou Ton
traite de Torigine, des droits, des bornes,
des différentes formes de la souveraineté,
selon les principes de Fauteur du Télé-
maque, bekannter unter dem Titel: Essai sur
le gouvernement eivil (zuerst London 1721).
Ein größerer Gegensatz gegen die Bossuetsche
Staatstheorie, die noch allherrschend war, ist
kaum denkbar, und ein schwereres und früheres
–½