Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Verdikt über die Revolutionstheorie als dieser 
„Versuch“ in der Blütezeit des Absolutismus, die 
Gerechtsamen des Volkes sicherzustellen und so dem 
Umsturz vorzubeugen, liegt historisch nicht vor. 
In der Politik, führt Fénelon aus, ringen zwei 
entgegengesetzte Prinzipien um den Sieg. Zu- 
nächst die Eigenliebe und das Privatinter- 
esse, welches angesichts der Unabhängigkeit und 
Gleichheit der Menschen das nationale Leben auf 
den Vertrag gründet und die Verantwortlich- 
keit der Träger der Autorität vor dem Volke ver- 
langt. Der Vertragsgesellschaft entgegen steht die 
ursprüngliche Gesellschaft, d. h. die vor allen 
Verträgen auf der Ungleichheit und Abhängigkeit 
ihrer einzelnen Glieder beruhende tatsächliche 
Regierung, deren einmal festgesetzte Form an- 
zutasten niemals dem Privatinteresse freisteht 
(1. Kap.). Die Norm des göttlichen Willens 
ist das Gesetz aller geistigen Kreatur, die Religion 
die Grundlage aller guten Politik, die Liebe und 
Ehrfurcht gegen Gott ein wesentlicher Teil des 
Naturgesetzes (2. Kap.). Auf der Liebe zum Men- 
schen als unseresgleichen beruht die Humanität, 
die Liebe zum Vaterlande, zur Familie, die väter- 
liche Autorität, die wohlgeordnete Selbstliebe. 
Die Ordnung der Liebe beginnt mit dem All- 
gemeinen und mit dem stufenweisen Herabsteigen 
zum Besondern; die Ordnung der Pflichterfüllung 
beginnt mit der Sorge für das Besondere und 
steigt zu dem Allgemeinen empor. Die gesellige 
Natur des Menschen verpflichtet zum wechsel- 
seitigen Verkehr der Freundschaft. Weitere Prin- 
zipien der Einheit und Gleichheit sind: die leib- 
liche Hilflosigkeit und die Ordnung der Zeugung; 
die Prinzipien der Furcht vor Unterdrückung und 
des willkürlichen Vertrages sind Phantasien 
(3. Kap.). Die Ungleichheit der Geburt 
begründet die vor jedem Vertrag vorhandene 
überlegenheit, die geistige sowohl wie die auf der 
Ordnung der Zeugung beruhende natürliche Ab- 
hängigkeit. Daher die Ordnung des Befehlens 
und Gehorchens. Vollkommene Gleichheit ist mit 
der tatsächlichen Natur der Menschen gänzlich un- 
vereinbar; die Anhänger solcher Ideen sind die 
größten Despoten (4. Kap.). Die Notwendigkeit 
einer höchsten Autorität beruht darauf, daß 
die Menschen nicht aus Liebe tun, was sie aus 
Furcht und Interesse tun müssen: jede Regierung 
muß absolut, d. h. mit einer obersten, in letzter 
Instanz entscheidenden Gewalt ausgestattet, aber 
darf nicht despotisch sein. Die Regierungsformen 
können mehr oder weniger vollkommen sein 
(5. Kap.). 
Die Quelle der souveränen Autori- 
tät beruht in der Anordnung der Vorsehung, 
nicht des Volkes; letzteres kann durch seine freie 
oder erzwungene Zustimmung zu der Herrschaft 
eines einzigen oder mehrerer ein Kanal der höchsten 
Autorität, aber nicht deren Quelle sein. Gott 
allein leitet an erster Stelle die Geschicke nach 
seinem ewigen Willen, und er gibt den Nationen 
Fénelon. 
  
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Herrscher, damit sie Werkzeuge seiner Gerechtig- 
keit und Barmherzigkeit seien (6. Kap.). Die Ent- 
wicklung der Gesellschaft beginnt mit der 
patriarchalischen Ordnung und führt durch 
die Teilung der Familie bis zur Konstituierung 
verschiedener Gemeinwesen mit verschiedenen Re- 
gierungsformen (7. Kap.). Man muß zwischen 
dem König des Rechts und dem König der Tatsache 
unterscheiden. Die einfache göttliche Zulas- 
sung gibt niemals ein Recht. Man muß allem 
unterworfen sein, was Gott zuläßt, aber man muß 
es nicht als gerecht billigen (8. Kap.). Das Erb- 
recht an Ländereien wie das der Krone unterstehen 
demselben Prinzip. Die Eigenliebe macht ein 
erkennbares Zeichen zur Entscheidung über den 
Rangnotwendig: das Alter der Familien (9. Kap.). 
Die Empörung wider die Gewalt ist nicht er- 
laubt und darum die Despotie der Anarchie vor- 
zuziehen. Der Nachfolger eines Tyrannen kann 
die Fehler seines Vaters gutmachen. In der 
Politik gibt es keine unfehlbare Autorität; die 
besten Fürsten machen große Fehler. Das Glück 
des Volkes ist ohne Zweifel das höchste Gesetz 
und der Zweck jeder Regierung. Aber dieses Glück 
besteht nicht allein im Uberfluß irdischer Güter; 
höher stehen andere Güter, wie die Erhaltung 
des Friedens, die Fernhaltung des Krieges usw. 
Selbst die schrecklichste Tyrannei wird, mit den 
Augen der Vorsehung betrachtet, zu einer vorüber- 
gehenden Störung, deren Gott sich bedienen kann, 
um seine ewige Ordnung zu verwirklichen. Wenn 
ein Fürst zu einem Kulte zwingen will, der dem 
widerspricht, den wir Gott schulden, so dürfen wir 
uns weder empören noch gottlosen Befehlen ge- 
horchen. Ein großer Unterschied besteht zwischen 
dem aktiven Gehorsam, der zu Dienern und Mit- 
schuldigen des Bösen macht, und dem passiven 
Gehorsam, welcher uns unverschuldet leiden läßt, 
was wir nicht hindern können, ohne die bestehende 
Ordnung zu stören. Souveräne, deren Gesetz einzig 
ihr eigener absoluter Wille ist, zerstören ihre Auto- 
rität bis aufs Fundament. Es wird eine plötzliche 
und gewaltsame Revolution kommen, und 
sie wird unter dem Vorwand, die über ihre Be- 
fugnisse hinausgetretene Macht wieder in ihre 
Grenzen zu bannen, diese Macht rettungslos nie- 
derschlagen. Gott wird des sich empörenden Volkes 
als Werkzeug seiner Gerechtigkeit zur Bestrafung 
der schlechten Fürsten sich bedienen. — Wohl steht 
die Revolution im Widerspruch mit der natürlichen 
Religion, dem Fundament jeder wahren Politik, 
aber Gott wird das Volk nicht ewig in der Unter- 
drückung durch eine schlechte Regierung lassen. 
Man muß also aus Ehrfurcht gegen diese höchste 
Vorsehung, die die Zeit der Nationen und der 
Tyrannen kennt, die schlechten Fürsten achten. — 
Auch haben die Untertanen das Recht, den Sou- 
veränen Vorstellungen zu machen. Man klage sich 
selbst an, wenn man nicht den Mut findet, den 
Souveränen die Wahrheit zu sagen. Die Liebe 
zum Vaterländ ist beinahe erloschen; jeder denkt
	        
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