153
Verdikt über die Revolutionstheorie als dieser
„Versuch“ in der Blütezeit des Absolutismus, die
Gerechtsamen des Volkes sicherzustellen und so dem
Umsturz vorzubeugen, liegt historisch nicht vor.
In der Politik, führt Fénelon aus, ringen zwei
entgegengesetzte Prinzipien um den Sieg. Zu-
nächst die Eigenliebe und das Privatinter-
esse, welches angesichts der Unabhängigkeit und
Gleichheit der Menschen das nationale Leben auf
den Vertrag gründet und die Verantwortlich-
keit der Träger der Autorität vor dem Volke ver-
langt. Der Vertragsgesellschaft entgegen steht die
ursprüngliche Gesellschaft, d. h. die vor allen
Verträgen auf der Ungleichheit und Abhängigkeit
ihrer einzelnen Glieder beruhende tatsächliche
Regierung, deren einmal festgesetzte Form an-
zutasten niemals dem Privatinteresse freisteht
(1. Kap.). Die Norm des göttlichen Willens
ist das Gesetz aller geistigen Kreatur, die Religion
die Grundlage aller guten Politik, die Liebe und
Ehrfurcht gegen Gott ein wesentlicher Teil des
Naturgesetzes (2. Kap.). Auf der Liebe zum Men-
schen als unseresgleichen beruht die Humanität,
die Liebe zum Vaterlande, zur Familie, die väter-
liche Autorität, die wohlgeordnete Selbstliebe.
Die Ordnung der Liebe beginnt mit dem All-
gemeinen und mit dem stufenweisen Herabsteigen
zum Besondern; die Ordnung der Pflichterfüllung
beginnt mit der Sorge für das Besondere und
steigt zu dem Allgemeinen empor. Die gesellige
Natur des Menschen verpflichtet zum wechsel-
seitigen Verkehr der Freundschaft. Weitere Prin-
zipien der Einheit und Gleichheit sind: die leib-
liche Hilflosigkeit und die Ordnung der Zeugung;
die Prinzipien der Furcht vor Unterdrückung und
des willkürlichen Vertrages sind Phantasien
(3. Kap.). Die Ungleichheit der Geburt
begründet die vor jedem Vertrag vorhandene
überlegenheit, die geistige sowohl wie die auf der
Ordnung der Zeugung beruhende natürliche Ab-
hängigkeit. Daher die Ordnung des Befehlens
und Gehorchens. Vollkommene Gleichheit ist mit
der tatsächlichen Natur der Menschen gänzlich un-
vereinbar; die Anhänger solcher Ideen sind die
größten Despoten (4. Kap.). Die Notwendigkeit
einer höchsten Autorität beruht darauf, daß
die Menschen nicht aus Liebe tun, was sie aus
Furcht und Interesse tun müssen: jede Regierung
muß absolut, d. h. mit einer obersten, in letzter
Instanz entscheidenden Gewalt ausgestattet, aber
darf nicht despotisch sein. Die Regierungsformen
können mehr oder weniger vollkommen sein
(5. Kap.).
Die Quelle der souveränen Autori-
tät beruht in der Anordnung der Vorsehung,
nicht des Volkes; letzteres kann durch seine freie
oder erzwungene Zustimmung zu der Herrschaft
eines einzigen oder mehrerer ein Kanal der höchsten
Autorität, aber nicht deren Quelle sein. Gott
allein leitet an erster Stelle die Geschicke nach
seinem ewigen Willen, und er gibt den Nationen
Fénelon.
154
Herrscher, damit sie Werkzeuge seiner Gerechtig-
keit und Barmherzigkeit seien (6. Kap.). Die Ent-
wicklung der Gesellschaft beginnt mit der
patriarchalischen Ordnung und führt durch
die Teilung der Familie bis zur Konstituierung
verschiedener Gemeinwesen mit verschiedenen Re-
gierungsformen (7. Kap.). Man muß zwischen
dem König des Rechts und dem König der Tatsache
unterscheiden. Die einfache göttliche Zulas-
sung gibt niemals ein Recht. Man muß allem
unterworfen sein, was Gott zuläßt, aber man muß
es nicht als gerecht billigen (8. Kap.). Das Erb-
recht an Ländereien wie das der Krone unterstehen
demselben Prinzip. Die Eigenliebe macht ein
erkennbares Zeichen zur Entscheidung über den
Rangnotwendig: das Alter der Familien (9. Kap.).
Die Empörung wider die Gewalt ist nicht er-
laubt und darum die Despotie der Anarchie vor-
zuziehen. Der Nachfolger eines Tyrannen kann
die Fehler seines Vaters gutmachen. In der
Politik gibt es keine unfehlbare Autorität; die
besten Fürsten machen große Fehler. Das Glück
des Volkes ist ohne Zweifel das höchste Gesetz
und der Zweck jeder Regierung. Aber dieses Glück
besteht nicht allein im Uberfluß irdischer Güter;
höher stehen andere Güter, wie die Erhaltung
des Friedens, die Fernhaltung des Krieges usw.
Selbst die schrecklichste Tyrannei wird, mit den
Augen der Vorsehung betrachtet, zu einer vorüber-
gehenden Störung, deren Gott sich bedienen kann,
um seine ewige Ordnung zu verwirklichen. Wenn
ein Fürst zu einem Kulte zwingen will, der dem
widerspricht, den wir Gott schulden, so dürfen wir
uns weder empören noch gottlosen Befehlen ge-
horchen. Ein großer Unterschied besteht zwischen
dem aktiven Gehorsam, der zu Dienern und Mit-
schuldigen des Bösen macht, und dem passiven
Gehorsam, welcher uns unverschuldet leiden läßt,
was wir nicht hindern können, ohne die bestehende
Ordnung zu stören. Souveräne, deren Gesetz einzig
ihr eigener absoluter Wille ist, zerstören ihre Auto-
rität bis aufs Fundament. Es wird eine plötzliche
und gewaltsame Revolution kommen, und
sie wird unter dem Vorwand, die über ihre Be-
fugnisse hinausgetretene Macht wieder in ihre
Grenzen zu bannen, diese Macht rettungslos nie-
derschlagen. Gott wird des sich empörenden Volkes
als Werkzeug seiner Gerechtigkeit zur Bestrafung
der schlechten Fürsten sich bedienen. — Wohl steht
die Revolution im Widerspruch mit der natürlichen
Religion, dem Fundament jeder wahren Politik,
aber Gott wird das Volk nicht ewig in der Unter-
drückung durch eine schlechte Regierung lassen.
Man muß also aus Ehrfurcht gegen diese höchste
Vorsehung, die die Zeit der Nationen und der
Tyrannen kennt, die schlechten Fürsten achten. —
Auch haben die Untertanen das Recht, den Sou-
veränen Vorstellungen zu machen. Man klage sich
selbst an, wenn man nicht den Mut findet, den
Souveränen die Wahrheit zu sagen. Die Liebe
zum Vaterländ ist beinahe erloschen; jeder denkt