Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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nur an sich, und wofern man sich nur bereichern 
kann, mögen die andern leiden; die Staaten gehen 
eher zugrunde, weil es zu wenige gute Bürger gibt, 
als weil es oft schlechte Souveräne gibt (10. Kap.). 
In der Erörterung über die Teile der Sou- 
veränität, ihre Ausdehnung und ihre Grenzen, 
wird den Fürsten das dreifache Recht der Gesetz- 
gebung, des Kriegs und Friedens, der Erhebung 
der Steuern zuerkannt, nach der Regel des öffent- 
lichen Wohles. Das Urteil über Tugend und 
Laster untersteht bei der Politik wie der Moral, 
bei einzelnen wie in ganzen Gesellschaften einem 
und demselben Gesetz. Die Fürsten haben keinen 
Richter über sich, sie zu bestrafen, aber immerdar 
ein Gesetz, welches ihr Verhalten regelt. Alle Ge- 
setze, alle Kriege, alle Auflagen, die nicht das 
öffentliche Wohl zum Gegenstand haben, sind eine 
Verletzung der wesentlichen Rechte der Menschheit. 
— Um die Ordnung aufrecht zu erhalten, muß der 
Mensch andern Menschen untertan sein, die oft 
schwach, fehlbar sind und unzähligen Leidenschaften 
gehorchen. Indem man die schrecklichen Übel der 
Anarchie vermeidet, läuft man Gefahr, in die 
Sklaverei zu verfallen; für die Menschen eine 
traurige Lage, für die Vorsehung aber ein weiser 
Zustand, um uns von diesem Leben loszulösen 
und unser Auge auf jenes andere Leben hinzu- 
richten, wo der Mensch nicht mehr dem Menschen, 
sondern dem ewigen Gott untertan ist (11. Kap.). 
Bei Besprechung der verschiedenen Formen 
der Regierung, der demokratischen, aristokra- 
tischen, monarchischen und der gemischten, erscheint 
zwar in der Theorie die letzte als die schönste und 
die nützlichste, wofern die Harmonie in ihr aufrecht 
erhalten werden könnte. Aber jede Teilung der 
Souveränität gebiert unaufhörliche Kämpfe, die 
mit Despotismus oder Anarchie enden (12. Kap.). 
Das zeigt sich an der Geschichte der Regierungen 
Roms und Englands (13. Kap.). Wenn die Parla- 
mente mit Mitgliedern sich füllen, deren Gedanken 
und Interessen sich bekämpfen, kann nichts anderes 
als eine außergewöhnliche Menge der verschiedensten 
Gesetze daraus entstehen: ebenso sicher ein Zeichen 
der Staatskorruption (schon Plato weiß das), wie 
  
Fénelon. 
  
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gemein gültige Form der Regierung zu empfehlen 
(15. Kap.). — Der reinen Volksregierung 
soll man nicht zustimmen, um nicht den Torheiten 
der Menge, dem Spielball der Launen und Leiden- 
schaften solcher zu verfallen, die kein Prinzip der 
Einheit in sich haben als das der Unabhängigkeit 
(16. Kap.). — Jenen, die mit der alleinigen 
Herrschaft der Gesetze die Regierung führen 
wollen, wird ihre Träumerei vorgehalten mit dem 
Hinweis auf die Notwendigkeit eines höchsten, 
lebendigen, sichern, autoritativen Auslegers der 
Gesetze (17. Kap.). — Nachdem Fenelon dann 
seine Regierungslehre auf sechs entscheidende Punkte 
zurückgeführt hat, weist er (18. Kap.) deren Über- 
einstimmung mit den Aussprüchen der Heiligen 
Schrift in bewundernswert feiner und freier Weise 
nach. 
Eine Ergänzung dieser Gedanken bot Ramsay 
in seiner Histoire de la vie et des ouvrages 
de Fénelon (Lond. 1723). Niemals solle Ja- 
kob III., heißt es unter anderem dort, wenn er 
den Thron besteigen werde, seine Untertanen mit 
Gewalt zum Wechsel der Religion zwingen; die 
Freiheit des Willens durch äußere Gewalt und 
Zwang zu beugen, sei unnütz und verwerflich. 
Wenn das englische Parlament ohne den König 
nichts vermöge, so auch der König nichts ohne 
das Parlament; der König vermöge all das Gute, 
was er wünsche, zu tun, die Beschränkung der 
Freiheit des Bösen sei vom Segen. Im Inter- 
esse des weisen Fürsten liege es, nur der Voll- 
zieher der Gesetze zu sein und in einem höchsten 
Rat eine Schranke für seine Gewalt zu finden. 
Alle Nationen seien wie verschiedene Familien 
eines und desselben Staatswesens: Gott sei ihr 
gemeinschaftlicher Vater und das öffentliche Wohl. 
nicht das Sonderinteresse, sei ihr gemeinschaft- 
liches, natürliches Grundgesetz; Tyrannei und 
Despotismus sei ein Attentat auf die Rechte und 
das Gesetz der Brüderlichkeit; der Despotismus 
der Menge, eine blinde und selbstmörderische 
Macht, sei die unerträglichste aller Tyranneien; 
sie sei der Fluch eines durch zügellose Freiheit 
verdorbenen Volkes. Aus dem Umsturz einer be- 
die Menge der Arzte auf die Vielheit und Ver= stehenden Regierungsform erblühe kein Glück; 
schiedenheit der Krankheiten hinweist (14. Kap.). letzteres erstehe für die Souveräne nur aus der 
Fenelons Ideal bleibt die durch die Aristokratie Überzeugung, daß die Sicherheit und Größe ihrer 
gemäßigte Monarchie, wo die Königsmacht Regierung von dem Glück der Untertanen ab- 
ihre Souveränität oder ihre Gesetzgebungsgewalt hänge; für die Völker aus der Überzeugung, daß 
mit einer Vertretung teilt, deren Mitglieder fixiert ihr wahres Wohl die Unterwerfung erheische. Wie 
und nicht gewählt sind. Die königliche Autorität Freiheit ohne Ordnung zur Zigellosigkeit und 
soll nicht die einzige, ausschließliche Macht des dann zur Knechtung führe, so sei der Fieberwahn 
Staates sein. Auf dem Zusammenwirken der mon= einer unbegrenzten Gewalt nur Ruin der eigenen 
archischen und der aristokratischen Macht ersteht Autorität. 
die legislative Gewalt, an der zwar das Prüft man diese Regierungspolitik als Ganzes 
gemeine Volk direkt keinen Anteil hat, die aber und in ihren Einzelheiten, so fordert, abgesehen 
für die außerordentliche Bewilligung von von Fehlern in der Wertschätzung der Aristokratie 
Steuern an die Zustimmung des Volkes ge= und andern öffentlichen Einrichtungen ein Drei- 
bunden sein soll. Fenelon weist auf die Unmög= faches unsere Anerkennung und Bewunderung: 
lichkeit hin, bei der Verschiedenheit des Charakters einmal die Tatsache, daß ein Jahrhundert vor 
der Nationen und ihrer Veränderlichkeit, eine all- dem Ausbruch der Revolution, lange vor Rousseau
	        
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