Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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umnd Montesquien eine so vollendete Regierungs- 
theorie geschaffen wurde, die, was positives, poli- 
tisches Denken anlangt, weit über alles hinaus- 
ragt, was bis dahin irgendwie geboten war und 
noch ein Jahrhundert später geboten wurde; dann 
die Tiefe der Einsicht in die Gärung der Zeit 
und ihre Bedürfnisse, die Kühnheit und Festigkeit 
des Urteils über das, was in seiner Zeit lebens- 
fähig sich zeige für die Folgezeit; endlich die geniale 
Freiheit und vollendete Einfachheit seiner politi- 
schen Anschauungen überhaupt. Und doch, so 
Großes sich hier im Kreis politischen Denkens 
zeigte, wie hinfällig erwies es sich unerwartet 
schnell gegenüber den persönlichen Schicksalen derer, 
die ihm Leben und Gestalt geben sollten! 
Am 29. Jan. 1712 hatten in Utrecht die 
Friedensverhandlungen begonnen, für deren Be- 
schleunigung und Beendigung Fenelon alles auf- 
geboten hatte; sie sollten für Jakob III. im Ver- 
tragsabkommen mit England vom 11. April 1713 
mit dessen Ausschließung vom englischen Thron 
enden. Am 9. April 1711 war der Großdauphin, 
der Zögling Bossuets, gestorben, sein Sohn, der 
Herzog von Burgund, der Zögling Fenelons, 
der erklärte Erbe des Thrones geworden, und 
Ludwig XIV., sonst so eifersüchtig auf seine Ge- 
walt, hatte ihn zum Mitregenten angenommen. 
„Sehen Sie“, sagte er zu einer Abordnung des 
Klerus, „das ist der Prinz, der mir bald nach- 
folgen und der durch seine Tugend und seine 
Frömmigkeit die Kirche blühender und das König- 
reich glücklicher machen wird.“ Nie war ein Wort 
berechtigter. Der Prinz, bis dahin zurückhaltend, 
verschlossen, zaghaft, zeigte jetzt, wo ihm seine 
Stellung und sein Weg gewiesen war, im Staats- 
rat und in Vertretung des Königs solche Kennt- 
nis, solchen Freimut, solche Bescheidenheit, solche 
Beredsamkeit und solchen Takt, daß selbst der 
alternde und gebeugte König auflebte in der sichern 
Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft. Aus 
dieser Stunde voll menschlicher, für viele schier 
berauschender Hoffnung haben wir von Fenelon 
ein Gebet, Gott möge die „wahre Größe“ des 
Fürsten auf einer Kleinheit von reiner Gnade auf- 
bauen (April 1711); Gott möge ihm „ein Herz 
schenken weit wie das Meer“, und in Bezug auf 
den hochbetagten, durch die schwersten Lebens- 
und Familienschicksale und das Scheitern seiner 
Weltpolitik tief gedemütigten König Unterwürfig= 
keit, Liebe und Gehorsam, verbunden mit dem 
ehrfurchtsvollen Freimut der Wahrheit und jener 
Klugheit, die der Wahrheit den Weg bereitet 
(12. Mai). Das war das letzte Wort des Er- 
ziehers. Und das letzte Wort des Politikers? Es 
ist gleich groß und bedeutend. 
Im Oktober des Jahres 1711 traf Fenelon 
mit dem Herzog von Chevreuse auf dessen kleinem 
Lustschloß zu Chaulnes (Picardie) zu mehrtägigen 
Konferenzen zusammen, deren Resultate die sog. 
Tables de Chaulnes sind, ein übersichtliches, in 
der Form summarisches Reformprogramm 
Fénelon. 
  
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für Frankreich, welches dem zukünftigen 
König als Grundlage seiner Regierung überreicht 
werden sollte. Mit seiner außerordentlich leichten, 
erfahrenen, kühnen, vielleicht in einzelnen Punkten 
zu kühnen Hand behandelt Fenelon hier die Lage 
der Kirche, der Armee, des Hofes, des Adels, 
der Justiz, des Handels, der Finanzen so treffend, 
so sicher und so einschneidend, daß man die viel- 
erörterte Frage, ob der Revolution von 1789 
hätte vorgebeugt werden können, mit Bezug auf 
Fénelons Reformprogramm unbedingt bejahen 
muß. Ein ganz neues Regierungssystem, welches 
sich auf alle Zweige der Staatsverwaltung er- 
streckt, steht vor uns, in direktem Gegensatz zu dem 
bisherigen Absolutismus und im Einklang mit 
den großen Institutionen des vorabsolutistischen 
Frankreichs. 
Hatte Fenelon schon früher die Einberufung 
der Notabelnversammlung vorgeschlagen, so for- 
dert er jetzt als Grundlage die Rückkehr zur alten 
Verfassung von Frankreich, die Berufung der 
Generalstände als stehende, je alle drei Jahre 
zu erneuernde organische Staatseinrichtung, deren 
Grundlage die Kreisversammlungen und die über 
ihnen stehenden Provinzialversammlungen bilden 
sollen. Die Generalstände, mit weitgehender Kom- 
petenz über alle Zweige des Staatswesens aus- 
gestattet, setzen ihre Beratungen so lange fort, als 
sie selbst deren Notwendigkeit befinden. Eigen ist 
Fenelon der hervorragende Anteil, den der Adel 
an diesen Repräsentantenkörperschaften nehmen 
soll: sein Ideal ist die durch die Aristokratie ge- 
mäßigte Monarchie. Der Adel, durch Ludwigs XIV. 
schwere Schuld in verhältnismäßig kurzer Zeit 
politisch, wirtschaftlich, sittlich heruntergekommen, 
sollte wieder die erste und festeste Stütze des Thrones 
werden; daher die Forderung seiner Erhebung zu 
selbständiger, in finanzieller und wirtschaftlicher 
Hinsicht unabhängiger Stellung durch Einführung 
von Majoraten und Übertragung der höchsten 
Militärstellen sowie, bei gleicher Würdigkeit, durch 
Verwendung im übrigen Staats= und Zivildienst. 
Die Heiraten des Adels mit reichen Bürgerlichen 
sind zu verbieten, die Bastarde bleiben infam, die 
natürlichen Söhne des Königs hören auf, Prinzen 
zu sein. Durch diese bevorzugte Stellung des 
Adels soll indes keinerlei Beeinträchtigung der 
Interessen des dritten Standes entstehen, da 
letzterem der ganze weite Kreis von Kunst und 
Wissenschaft. von Handel und Industrie als eigenste 
Domäne und als beste Quelle des Reichtums und 
der Ehren zufalle. Hinsichtlich der Reform des 
Hofes, dieser Hauptauelle erdrückender Volks- 
lasten, soll eine durch genaue Revision durchzu- 
führende Beschränkung der Ausgaben eintreten. 
Was die Armee anlangt, so wird deren sehr be- 
deutende Verminderung verlangt, nur wenige, 
aber gute Festungen sollen beibehalten, die Käuf- 
lichkeit der Offiziersstellen aufgehoben werden; 
eine im ganzen Land einzuführende Landwehr 
wird gefordert, desgleichen die gute Behandlung
	        
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