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er den Abschiedsbrief an Ludwig XIV., worin er
nach Beteurung seiner Liebe zur Kirche und der
„in absolutester Einfalt seiner Seele“ geschehenen
Annahme der Verwerfung seines Buches den König
versicherte, „auch nicht einen Augenblick seines
Lebens“ von der ihm schuldigen Anhänglichkeit
abgewichen zu sein. Beim Tagesgrauen des
7. Jan. 1715 verschied er während der Verlesung
der Leidensgeschichte Jesu nach kurzer Bewußt-
losigkeit in großen Schmerzen. Vier Monate
später starb Ludwig XIV. Aber die Zeit des
Absolutismus war noch nicht zu Ende; die der
Reform hatte ihren größten Mann und Denker
verloren; die der Revolution begann in den empö-
renden Szenen beim Begräbnis des Königs.
Wie für die Dauer seines Lebens, so blieb das
Wirken und der Charakter Fnelons nach seinem
Tode Gegenstand der widersprechendsten Erörte-
rungen bis heute. Was hat ihm bei den Atheisten
der Revolutionsepoche jene Popularität einge-
tragen, die er als ein Schimpf bei Lebzeiten von
sich gewiesen haben würde? Ihn, den bis zum
Heroismus sich verdemütigenden Bischof, den
starkmütigen Verteidiger der Kirchenlehre gegen
die jansenistische Häresie, feierte man bald als
heimlichen Deisten bald als heuchlerischen Aposta-
ten, und die freche Leugnung des Übernatürlichen
und der Gottheit Christi nannte man die „Reli-
gion Fénelons“. Die Taktik, einen Mann der
Kirche übermäßig zu beräuchern, um ihn in
schimpflichen Gegensatz zur verachteten Kirche zu
bringen, ist alt und verfängt nur kurze Zeit.
Dann machte man den verbannten Bischof zu
einem unzufriedenen Politiker, um sein kirchliches
Wirken zu diskreditieren. Die Kühnheit der Re-
formideen Fénelons, das heidnische Kleid des
Télémaque, das homerische Gepräge seiner Dar-
stellung „der liebenswürdigen Einfalt der ent-
stehenden Welt“ und ihrer Verwandtschaft mit
dem Naturzustand der Wildheit (J. J. Rousseau)
bildeten den Einschlag in dieses Phantasiegewebe.
Die Legende, abgesehen von der infamen Nichts-
würdigkeit von Joseph Chéniers Fénelon ou les
religieuses de Cambrai (1795), dem würdigen
Seitenstück zu Diderots Religieuse, ging auch in
weiteren, ehrbaren Kreisen auf den „Schwan von
Cambrai“, „den milden Fénelon“ über. Erst
Kardinal Bausset (Histoire de Fénelon, 3 Bde,
Par. 1808/09; deutsch von Feder, 1811/12)
bahnte der geschichtlichen Forschung, freilich nach
den Anschauungen des ersten Kaiserreichs, eine
Gasse. Gegenüber der an Bausset sich anschlie-
ßenden aufsteigenden kirchengeschichtlichen For-
schung erfolgte aber bald die neue Schild-
erhebung der mehr literarhistorischen Forschung
im Anschluß an D. Nisard (Hist. de la litter.
frangç. III, c. 14) nach dem bekannten Thema
Ludwigs XIV. von dem „größten Schöngeist"
und dem „größten Abenteurer“; besonders die
Episode der aquietistischen Streitigkeiten ist in der
ausgiebigsten Weise ausgebeutet worden, mehr
Staatslexikon. II. 3. Aufl.
FEnelon.
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zugunsten Féenelons bei Algar Griveau (Etude
sur la condamnation des Maximes des
Saints, 2 Bde, Par. 1878) und J. Denis
(Quiêtisme. Querelle de Bossuet et Fönelon,
Caen 1894), mehr zuungunsten in der Vertei-
digung der Frau Guyon (L. Guerrier, Madame
Guyon, Orléans 1881), durch Schmähung des
Mannes, der das Unglück hatte, seine Sache zu
sehr mit der Verteidigung ihrer Lehrirrtümer zu
verbinden. Gegen Fenelon und sein ganzes
Wirken gerichtet wurden auch die Schriften von
M. Lanson (Bossuet (Par.“18911 c. 8), Brune-
tière (Art. „Fenelon“ in der Enzyklopädie La-
mirault), am weitesten L. Crousle (Fénelon et
Bossuet, Par. 1895 (bis jetzt 2 Bdel). Brune-
tière meint, alles kläre sich im Leben Fenelons auf,
sobald man die Spekulation auf eine Berufung
Fénelons zum Premierminister zugebe. Zum
wissenschaftlichen Erweise einer solchen Annahme
wäre der Nachweis von Tatsachen unerläßlich,
welche dieses Streben und solchen Ehrgeiz nicht
allein als möglich und wahrscheinlich, sondern auch
als unanfechtbar sicher feststellten, und dann der
weitere Nachweis, daß Fénelon von solcher In-
tention vollständig geleitet gewesen sei. Für Fe-
nelon fehlt noch der Geschichtschreiber, ebenso wie
für Bossuet. Seine Aufgabe bei einem Manne,
der nie den Stolz des Aristokraten bei aller De-
mut als Priester verleugnete, der eine ausschwei-
fende Phantasie mit viel praktischem Sinn, fast
weibliche Zartheit mit vollster Manneskraft, Milde
mit oft heftiger Leidenschaftlichkeit verband, ist
eine schwierige, unlösbar für den, welcher sich auf
den rationalistischen Standpunkt der Leugnung
der Gnade und ihrer Einwirkung auf das Leben
eines selten begabten priesterlichen Genies stellt;
unlösbar auch für solche, welche aus dem Geist
antichristlicher Politik an Fénelon nichts sehen
wollen als verschlagenen Ehrgeiz. Intrigantentum
und Doppelzüngigkeit — ob unbewußt oder be-
wußt, also formelle Heuchelei, verschlägt wenig.
Ein des Namens würdiger Forscher muß ver-
langen, daß ein Charakter von solcher Höhe trotz
seiner Mängel nicht von solchen abgeurteilt werde,
die das ABE des christlichen Lebens nicht einmal
verstehen, geschweige denn in Forschung und
Selbsterfahrung dessen ganze Größe erprobt
haben. Freilich ist diese Aufgabe nicht leicht. Als
Saint-Simon Fénelons Totenmaske sah. erklärte
er, daß „es schwer sei, die richtige Harmonie seiner
Züge zu entdecken, welche im Original auffiel“.
Dasselbe gilt auch von der innern, geistigen Har-
monie; die Auffindung der ihre Schönheit und
Größe bildenden Grundzüge würde ein selten
großes Bischofsleben trotz aller Schlacken der Zeit
und der menschlichen Hinfälligkeit, die ihm noch
anhaften, entrollen. Für die christliche Politik der
Neuzeit bleibt er einer der weitestblickenden vor-
revolutionären Zeugen, unstreitig in der Fürsten-
erziehung nach christlichem Ideal ein unerreichtes
Genie, im Kampf gegen Despotie und Absolutis-
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