Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Verleger anonym ausgegebene Schrift Fichtes 
anfangs für das erwartete Werk Kants selbst an- 
esehen. 
8 fen. zeitgenössischen Ursprungs sind die 
beiden folgenden Schriften (1793): „Zurück- 
sorderung der Denkfreiheit von den Fürsten Euro- 
pas, die sie bisher unterdrückten“, und: „Berichli- 
gung der Urteile des Publikums über die franzö- 
sische Revolution“. Die erste gibt einer Forderung 
der Aufklärungszeit und der Kämpfer gegen die 
geistige Bevormundung durch den absolutistischen 
Staat pathetischen Ausdruck, nicht ohne des öfteren 
gegen das bisherige Regime im Tone schwülstiger 
Konventsreden zu eifern. Die zweite sucht gegen- 
über dem Umschlag in der allgemeinen Stimmung, 
welche die blutigen Greuel der französischen Re- 
volution herbeigeführt hatten — sie waren nach 
Fichte nicht Folge der Revolution, sondern der 
vorhergegangenen Geistesknechtung —, die Grund- 
prinzipien der Revolution selbst zu rechtfertigen. 
Eine Verfassung, die rechtlich unabänderlich wäre, 
sei unmöglich und könne durch keinen Staats- 
vertrag geschaffen werden; denn ein solcher Grün- 
dungsakt würde die Ubertragung von unübertrag- 
baren Rechten der Vertragschließenden an die 
Staatsgewalt einschließen und darum widersinnig 
sein. Der Staat als Zwangsanstalt sei überhaupt 
nicht Endzweck des Menschen als Vernunftwesen, 
sondern nur ein Mittel, um in unendlichem Fort- 
schritt dem Ideal der Gesellschaft als einer voll- 
kommen freien Vernunftgemeinschaft näher zu 
kommen. Diesen Fortschritt zu fördern, wie das 
Grundprinzip der Revolution, die rechtliche Gleich- 
stellung aller Bürger, es tue, sei ein unveräußer- 
liches Recht derjenigen, die im Staatsvertrag 
zusammengetreten sind und nur durch ihren fort- 
dauernden Vertragswillen den Staat erhalten. 
Sie haben daher auch das Recht, vom Vertrag 
zurückzutreten, eventuell auch einseitig einen neuen 
Staat zu gründen, zunächst innerhalb des alten 
Staates — eine wunderliche Konstruktion, deren 
Möglichkeit Fichte durch den Hinweis auf die 
Juden, den Militärstand, den Adel, die Hier- 
archie beweisen will, die jetzt schon Staaten im 
Staate bildeten —, bis dann allmählich dieser 
neue Staat die noch verbliebenen Reste des alten 
aufsaugt. So ist die Revolution für Fichte in 
Wahrheit Evolution. Auch die konkreten Maß- 
nahmen der Revolution: Aufhebung der Adels- 
privilegien, Einziehung der Kirchengüter usw., 
werden als berechtigte Forderungen der Vernunft 
hingestellt und eine Trennung der auf das Un- 
sichtbare gehenden Kirche und des im Sichtbaren 
verbleibenden Staates verlangt. Der Katholizis- 
mus habe den konsequenten Stand; aber gerade 
seine Folgerichtigkeit im Gegensatz zu den prote- 
stantischen Halbheiten soll die Unmöglichkeit einer 
sichtbaren Kirche überhaupt beweisen, wie denn 
Fichte auch noch viel später gegen den „Papis= 
mus“ bei Lutheranern und Kalvinern geeifert hat 
(W. IV 245). — Manches von diesen politischen 
Fichte. 
  
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Erstlingsschriften hat Fichte in seiner weiteren Ent- 
wicklung fallen lassen, sowohl von den zum Teil 
höchst wunderlichen Konstruktionen wie von den 
einzelnen Sätzen; seine Begeisterung für die fran- 
zösische Revolution erkaltete und machte in der 
Zeit der vaterländischen Not einem glühenden 
deutschen Patriotismus Platz; aber die theoreti- 
schen Grundlagen, in denen sich mit dem Rousseau- 
schen Staatsbegriff die deutlich schon anklingenden 
Grundanschauungen seiner um diese Zeit sich ge- 
staltenden eigenen Philosophie verbinden, hat er 
im wesentlichen auch spätek festgehalten. 
Zur vollen Ausbildung seiner eigenen Philo- 
sophie gelangt Fichte in Jena, wohin er 1794 
berufen wurde. Hier entstehen die grundlegenden 
Schriften, vor allem die „Grundlage der gesamten 
Wissenschaftslehre"“ (1794), die „Grundlage des 
Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschafts- 
lehre“(1796), das „System der Sittenlehre nach den 
Prinzipien der Wissenschaftslehre“ (1798). Es ist 
hier nicht der Ort, die Grundanschauungen dieser 
Wissenschafts= und Sittenlehre näher zu behandeln 
(auf die Rechtslehre werden wir noch zu sprechen 
kommen). Da indes Fichtes ganze Anschauung 
von Recht, Staat und Gesellschaft auf diese Grund- 
lagen sich stützt, so seien hier wenigstens die Kern- 
punkte angegeben. — Die der mechanischen Kau- 
salität unterworfene äußere (materielle) Natur hat 
nicht eine selbständige Realität als „Ding an sich" 
gegenüber dem Ich. Wohl beeinflussen das einzelne 
beschränkte Ich (die Einzelintelligenz oder Person) 
und das Nicht-Ich oder die Natur sich wechsel- 
seitig; in der theoretischen Betrachtung wird das 
Ich vom Nicht-Ich, im praktischen Handeln das 
Nicht-Ich vom Ich bestimmt; aber in dem tiessten 
Grunde, der dem Selbstbewußtsein des Ich als 
eines Vernunftwesens und seinem Erfahrungs- 
bewußtsein von der Außenwelt (zu der auch der 
Leib gehört) vorausgeht, sind Ich und Nicht-Ich 
vereinigt als zwei einander wechselseitig bedingende 
Weisen ein und derselben Urtätigkeit: eines Stre- 
bens oder Wollens („transzendentaler Idealis- 
mus“). Nirgendwo gibt es eine tote, ruhende 
Substanz, weder als Grundlage des vorstellenden 
Bewußtseins im Ich noch als Wesenskern der er- 
scheinenden Objekte (Ausgangspunkt des gesamten 
nachkantischen deutschen Idealismus). Der Grund 
alles vorstellenden Bewußtseins ist vielmehr ein 
Tun, ein Streben (als Weltpotenz wie im Einzel- 
Ich). Dieses Streben aber muß in sich reflektieren, 
um sich zu erfassen, muß sich so eine Schranke 
setzen, die von dem Ich als ein Nicht-Ich oder als 
Objekt gefühlt wird. Über jede solche Schranke 
aber schreitet das unendliche Streben stets wieder 
hinaus, und so geht das Ziel jeder endlichen In- 
telligenz, die ja nur in dem allgemeinen, über- 
empirischen Ich Bestand hat (Pantheismus), auf 
die Unendlichkeit eines „absoluten Ich“. Selbst- 
tätigkeit des vernünftigen Geistes, der sich nicht 
in die Gewalt des der Natur angehörenden Leibes 
begibt, sondern ihn und alle sinnlichen Kräfte 
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