Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Philosophie. So fonnie er auf die Ausgestaltung 
der 1810 gegründeten neuen Berliner Universität, 
deren zweiter Rektor er war, keinen entscheidenden 
Einfluß gewinnen, war aber unermüdlich als 
Lehrer tätig. In Schriften und besonders in Vor- 
lesungen über Wissenschafts-, Rechts= und Sitten- 
lehre (zumeist in den „Nachgelassenen Werken“ 
veröffentlicht), von denen hier das 1812 vor- 
getragene System der Rechtslehre von Bedeutung 
ist, gibt er seinem System eine neue Form, die in 
manchem auch sachlich von der früheren verschieden 
ist. doch sich im ganzen als ihre Fortbildung be- 
greifen läßt. Aufs neue flammt die patriotische 
Begeisterung Fichtes mit der Volksbewegung auf, 
die zu den Befreiungskriegen führt. Im Sommer 
1813 hält er seine Vorlesung „Über den Begriff 
des wahren Krieges“, der kein dynastischer, sondern 
ein Volkskrieg ist (darin die berühmte Würdigung 
Napoleons). Seine Frau, unermüdlich in Laza- 
retten tätig, wird vom Typhus ergriffen; sie selbst 
genest; aber Fichte, von der gleichen Krankheit 
erfaßt, erliegt ihr am 27. Jan. 1814. 
II. Was von Fichte in der Gegenwart wieder 
lebendig geworden ist — in Anlehnung an ihn 
oder in veränderter Gestalt — und was vor allem 
eine Auseinandersetzung mit ihm auch innerhalb 
der aktuellen Problemstellungen der Gegenwart 
erfordert, sind vorzugsweise erkenntnistheoretisch- 
metaphysische, moral= und religionsphilosophische 
Fragen: seine Lehre von einem unbewußten Tun 
als Grund des Bewußtseins, von der unmittel- 
baren Gewißheit der sittlichen Norm und der sitt- 
lichen Anforderung als des Grundes unseres 
Glaubens an die Realität überhaupt, von der 
Sittlichkeit als einem unendlichen Annäherungs- 
prozeß an das Ideal wahrer innerer Freiheit, von 
einem im Unterbewußten (das „Subkonsciente" 
nennt es die französische Literatur) waltenden gött- 
lichen Leben, das im Bewußten zur Erscheinung 
gelangt, und anderes. Nicht ganz so steht es 
mit Fichtes Staats- und Gesellschaftsphilosophie, 
wenngleich auch hier manche Ideen der modernen 
Soziologie, insbesondere ihrer sozialistischen Form, 
von Fichte mehr oder minder antizipiert sind. Im 
übrigen sind die rechts= und staatsphilosophischen 
Grundbegriffe Fichtes und seine Einzelsätze als 
solche weniger originell; sie gehören meist Rous- 
seau, der Philosophie Kants (wenngleich dessen 
„Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“ 
erst ein Jahr nach Fichtes „Grundlage des Natur- 
rechts'erschienen), überhaupt der damaligen Natur- 
rechtstheorie an. Auch das teilt Fichte mit der 
Naturrechtstheorie seiner Zeit, daß er der positiven 
Behandlung des Rechts und seiner historischen 
Betrachtung gänzlich fernsteht, ja sich verständnis- 
los ablehnend dagegen verhält, daß er ferner unter 
dem Titel „Naturrecht“ nicht nur allgemeine Prin- 
Ripien entwickelt, sondern — was jenes „Natur- 
recht“ vor allem verrufen gemacht hat — sich auch 
in eine Menge positiver Einzelheiten verliert, die 
durchdas Naturrechtvernunftgemäß geregeltwerden 
Fichte. 
  
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sollen. Was dagegen Fichte eigentümlich ist, ist 
vor allem das Bestreben, die Begriffe des Rechts, 
des Staates, der Gesellschaft in streng systematischer 
Weise als vernunftnotwendig oder als a priori 
gewiß zu deduzieren, d. h. zu zeigen, daß in ihnen 
notwendige Handlungen des Geistes (der Intelli- 
genz, der Ichheit) gegeben sind, ohne welche das 
ursprüngliche vorbewußte, allem als Weltpotenz 
zugrunde liegende Streben in den vielen, durch die 
höhere Einheitzusammengefaßteneinzelnen „Ichen“ 
oder Personen nicht zum Selbstbewußtsein kommen 
könnte. In dieser Form der Deduktion ist er 
durchaus original, wenn auch der allgemeine Ge- 
danke einer apriorischen philosophischen Rechts- 
deduktion Kant entnommen ist, der in verhängnis- 
voller Weise den Begriff der Philosophie ein- 
geschränkt hatte und die Philosophie nur so weit 
reichen lassen wollte, als unabhängig von allem 
empirischen Erfahrungsmaterial Sätze a priori, 
d. h. aus der reinen Vernunft, abgeleitet werden 
könnten. Eine derartige apriorische Deduktion aus 
der empirielosen reinen Vernunft aber, in der das 
Spezifische der Fichteschen Rechts-, Gesellschafts- 
und Staatslehre besteht, ist längst als völlig miß- 
lungen erkannt. Sie kann daher hier übergangen 
werden, zumal ihre schwer verständliche Form zu 
unzähligen Mißverständnissen Anlaß gab. Ander-= 
seits erhalten doch auch unter den nicht selbständigen 
Begriffen Fichtes viele durch die Art ihrer Ab- 
leitung und durch die ganze Fichtesche Weltanschau- 
ung ein charakteristisches Gepräge. 
1. Nach Fichte ist der Begriff des Rechts 
nicht von dem der Sittlichkeit abzuleiten, sondern 
ist selbständig. Damit soll nicht ausgesprochen 
werden, daß etwas Moralwidriges doch vernünf- 
tigerweise Rechtens sein könne, sondern Fichte tritt 
dem Versuche mancher Naturrechtslehrer seiner Zeit 
(im Grunde auch Kants) entgegen, die aus der 
Moral allein schon deduzieren wollten, daß die 
Moral verlange, bestimmte, auf moralisch nicht 
geforderte Handlungen bezügliche Festsetzungen zu 
staatlich erzwingbaren, d. h. zu Rechtsfestsetzungen, 
zu machen. Nicht um die Frage, ob etwas Er- 
zwingbares auch Gegenstand des Sittengesetzes sein 
könne, handelt es sich hier, sondern um die andere, 
ob die Erzwingbarkeit selbst sich aus dem Sitten- 
gesetz ableiten lasse. Fichte selbst deduziert das 
Recht der Moral gegenüber selbständig als eine 
eigene Bedingung des Selbstbewußtseins, d. h. er 
sucht zu zeigen, daß ein endliches vernünftiges 
Wesen sich nicht „setzen“ (bewußt erfassen) könne, 
ohne nicht nur sich selbst eine freie Wirksamkeit in 
der sinnfälligen Welt zuzuschreiben, sondern diese 
auch andern endlichen Vernunftwesen außer sich 
beizulegen und sich selbst zu setzen als mit diesen 
in einem bestimmten Verhältnis stehend, nämlich 
dem, daß „jedes vernünftige Wesen seine Freiheit 
durch den Begriff der Möglichkeit der Freiheit des 
andern beschränke, unter der Bedingung, daß das 
erstere die seinige gleichfalls durch die des andern 
beschränke“ (III 52). Der moralischen Pflicht
	        
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