Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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wird in dieser Ableitung nicht gedacht; die zum 
Recht hinzukommende Sanktion durch die Moral 
ist nach Fichte nicht ein Gegenstand der Rechts- 
lehre, sondern der Moralphilosophie. Einfluß- 
reicher als diese abstruse Deduktion ist für die 
Sonderung von Recht und Moral ein anderer 
oft wiederholter Grund Fichtes geworden, bei 
dem freilich Recht und Rechtsgebrauch verwechselt 
werden: das Sittengesetz gebiete eine Pflicht kate- 
gorisch, während das Rechtsgesetz eine Handlung 
mrr erlaube. 
2. Das Recht gibt die Möglichkeit allseitig freien 
Handelns in der Sinnenwelt. Zur Sinnenwelt 
gehört zunächst der eigene Leib, dessen Realität 
Fichte in einer seiner seltsamsten Deduktionen als 
Bedingung des Selbstbewußtseins a priori be- 
wiesen hat; ferner das Eigentum als Objekt äußerer 
Betätigung. Darum sind das Recht auf den eigenen 
Leib und auf Eigentum, zu denen noch das Recht 
Fichte. 
  
auf Selbsterhaltung tritt, „Urrechte“. Diese Ur- 
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Gesetz muß die Exekutive durch eine beaufsichtigende 
Behörde verantwortlich machen. Es bedarf der 
„Ephoren“ als Repräsentanten des Volkes, deren 
Unparteilichkeit durch komplizierte Einrichtungen 
gesichert werden soll. Fichte greifst damit (wie 
übrigens auch z. B. Kalvin), weit von Rousseau 
abgehend, auf antike Vorbilder zurück. Die un- 
erfreuliche Geschichte der „Stände“ mit ihren 
weniger um das Gemeinwohl als um ihre beson- 
dern Interessen bekümmerten Bestrebungen ließ 
wohl den Gedanken an Kammern in ihm nicht 
aufkommen. 
3. So ist der Fichtesche Staat, wie er in der 
„Grundlage des Naturrechts“ (1796) und im 
„System der Sittenlehre“ (1798) entwickelt wird, 
ausschließlich Rechtsstaat. Der Begriff des 
Rechtsstaates ist hier natürlich nicht im modernen 
Sinne zu nehmen. Er ist nicht der despotischen 
Herrschaft, der Kabinettsjustiz und der admini- 
strativen Willkür entgegengesetzt; sein Wesen wird 
rechte müssen, um sichergestellt zu werden, deklariert nicht darin erblickt, daß der Staat in die Frei- 
(Rechtsgesetzs) und durch Zwangsbestimmungen heitssphäre des Individuums nur innerhalb der 
gesichert werden (Zwangsgesetze). Damit aber die Grenzen des Gesetzes eingreifen darf. Vielmehr 
zwangsweise Durchführung gegen subjektive Will- bedeutet der „Rechtsstaat“ bei Fichte, wie bei 
kür sichergestellt werde, bedarf es eines „gemein- Kant und Wilh. v. Humboldt, die Einschränkung 
samen Willens“ (Rousseaus volonté gencrale), des Staatszweckes auf die Begründung und Siche- 
der die Privatwillen in sich vereint und darum rung des Rechtes. Der Staat hat nach dieser 
nur durch einen Vertrag, den Staatsbürgervertrag Theorie nicht einen allgemeinen Wohlfahrtszweck; 
Cer schließt den Eigentumsvertrag, d. h. den Ver= nicht Glückseligkeit, sondern nur was Rechtens ist, 
trag auf freie Betätigung in der Sinnenwelt, den soll die Obrigkeit ins Auge fassen, fordert Fichte 
Schutzvertrag auf Schutz dieses Eigentums und schon 1793. Das gilt in ökonomischer Beziehung, 
den eigentlichen Vereinigungsvertrag ein), herge= aber auch hinsichtlich der geistigen Güter. Dem 
stellt werden kann. So „gilt“ etwas rechtlich nur Staate steht nicht nur die Kirche gegenüber, son- 
im Staate. dern auch die Arlehrte Republik“, das „gelehrte 
Die von Fichte hier entwickelte Vertragstheorie Publikum“ (s. o.), d. h. die Gesamtheit der „Ge- 
des Staates hat weder an sich noch in ihrer be= lehrten“, welche sich der Pflege der voranschreiten- 
sondern Form etwas Eigenartiges. Hervorgehoben den Vernunftwissenschaft widmen und dadurch die 
sei, daß Fichte an verschiedenen Stellen (ganz wie! überleitung des Staates zum Vernunftideal för- 
Kant) ausdrücklich bemerkt, er wolle so wenig wie dern. Deshalb müssen auch die Wissenschaft und 
Rousseau eine historische Erklärung vom Ursprung ihre Verkündigung von staatlichem (und kirch- 
der Staaten geben, sondern nur entwickeln, wie lichem) Zwange frei bleiben; nur die Zeit und der 
der Staat beschaffen sein müsse, damit er der Ver-Fortgang der Kultur sind hier Richter (IV 251). 
nunftidee entspreche. Aus dem von der Not des Insofern freilich der Gelehrte nicht als Gelehrter 
Lebens zusammengefügten Gebilde, dem „Not- # auftritt, sondern als Beamter des Staates oder 
staat“, soll sich, der Anforderung der Vernunft als Kirchendiener tätig ist, hat er nicht ohne wei- 
entsprechend, der vernunftgemäße, sittlich ver= teres das Recht, „seine Uberzeugung in der Sinnen- 
bindende Rechtsstaat entwickeln (IV 238). Keine welt zu realisieren“ (IV 252). 
  
Geschichte, sondern ein Wertmaß für die Beur- 
teilung und ein Prinzip des Fortschritts will er 
geben. Dieses Prinzip aber liegt ihm darin, da 
der Mensch als Vernunftwesen von keinen andern 
positiven Gesetzen abhängen könne als von solchen, 
die er sich selbst auflege. 
Der mit Gewalt zur Durchführung der Gesetze 
ausgestattete gemeinsame Wille ist die Staats- 
gewalt. Sie schließt die polizeiliche, die richterliche 
und die Strafgewalt ein. Damit die Staats- 
gewalt, d. h. das wirksame, nicht bloß abstrakte 
Gesetz, nun auch tatsächlich immer nur das Gesetz 
uneigennützig ausführt, muß „das Gesetz sich selbst 
ein Gesetz vorschreiben“, d. h. ein „konstitutives“ 
  
Wenn hier von Fichte, wie von Kant und 
vielen sich anschließenden juristischen Staatstheo- 
ß retikern jener Zeit, der Staat nur als Rechtsstaat 
gefaßt wird, so begreift sich diese Beschränkung 
historisch als Reaktion gegen den absolutistischen 
Staat, der durch allseitige Bevormundung das 
geistige und leibliche Glück begründen wollte. Für 
Fichte aber ist daneben bedeutsam, daß er als 
einer der ersten in der neueren Zeit scharf zwischen 
Staat und Gesellschaft unterscheidet. Der 
Staat ist ihm nicht die oberste Gesellschaft schlecht- 
hin, sondern nur eine besondere Art der Gesell- 
schaft, für welche die zwangsweise Durchführung 
des Rechts charakteristisch ist. In der vernünf-
	        
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