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tigen Natur des Menschen liegt die Möglichkeit
einer ohne gesetzgebende und zwingende Macht
V53) durch das bloße Sittengesetz geregelten
Gemeinschaft der Menschen. Zu diesem Zustand
einer des Zwanges nicht bedürfenden freien sitt-
lichen Gemeinschaft soll der Staat, wie Fichte
schon in seiner Schrift von 1793 aussprach (VI
86 ff) und seitdem stets festhielt, durch „Kultur"
hinführen, welche die Sinnlichkeit bändigt und
die sinnlichen Kräfte der Vernunft dienstbar macht
(weshalb Fichte auch die Rousseausche Verherr-
lichung des Naturzustandes verwirft). So ist „der
Zweck aller Regierung, die Regierung überflüssig
zu machen“, wenn bis dahin auch noch Myriaden
von Jahren vergehen mögen (IV 306). —
Durch diese Ausführungen, die an Augustins und
Thomas von Aquinos Unterscheidung des Zwangs-
staates und derjenigen Gesellschaft, die auch in
einem dauernd gebliebenen Paradieseszustande der
Menschheit sich naturgemäß entwickelt hätte, er-
innern, begründet Fichte von der moralischen Seite
her den besondern Begriff der Gesellschaft, dem
ghome bald von anderer Seite her beizukommen
uchte.
5. Wie wir sahen, ist das Recht auf Eigen-
tum für Fichte ein Urrecht, das freilich erst durch
die Begründung einer gesicherten Rechtsordnung
im Staate zur Geltung kommt. Der Eigentums-
begriff Fichtes ist der Sache nach der von vielen
Nationalökonomen im Gegensatz zur herkömm-
lichen juristischen Theorie vertretene: Eigentum
beruht auf Arbeit, wird durch Arbeit begründet.
Bei Fichte aber ergibt sich dieser Satz nicht aus
ökonomischen Erwägungen, sondern aus seiner
Rechtstheorie und den Grundgedanken seiner Philo-
sophie. Wie er überhaupt keine toten Sachen als
„Dinge an sich“ anerkennt, sondern das Objektive
nur als „gesetztes“ Objekt der Selbstbetätigung
gelten läßt, so regelt bei ihm das Recht direkt nur
die freie Betätigung der Personen in der Sinnen-
welt durch deren wechselseitige Einschränkung. Des-
halb ist ihm diese freie Betätigung der ursprüng-
liche Inhalt des Eigentumsrechts und erst mittel-
bar, durch diese Betätigung, auch die bearbeitete
Sache.
6. Durch den Ausbau dieser Eigentumslehre
gewinnt nun bei Fichte (abweichend von Kant)
auch der Begriff vom Staat eine Erweiterung
seines Inhalts. Der Rechtsstaat wird zugleich
sozialer Staat. Nach dem „Geschlossenen
Handelsstaat“ (1800), dessen Grundgedanken
Fichte in späteren Vorlesungen zum Teil noch
weiter ausbaut, hat der Staat nicht nur die Auf-
gabe des Rechtsschutzes und damit des bloßen
Schutzes für das Eigentum, sondern er soll zu-
gleich das Eigentum, d. h. die glückerzeugende
freie Betätigung, regeln, so daß jeder, wie die
Gerechtigkeit es erfordert, an den Gütern des
Lebens den gleichen Anteil hat: eine Überspan-
nung des Begriffs der (schon in der Schrift über
die Revolution) geforderten Rechtsgleichheit aller
Fichte.
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Bürger, auf deren Kritik hier, in einem histori-
schen Artikel, nicht eingegangen werden kann. Aus
jenem Satz ergeben sich für Fichte weitere Folge-
rungen. Da das Eigentum bei ihm nicht etwas
Sächliches, sondern die freie Tätigkeit in der
Sinnenwelt bedeutet, so folgt daraus das Recht
auf Arbeit. Der Staat darf keinen Müßiggänger
dulden, ist aber verpflichtet, allen Gelegenheit zur
Arbeit zu verschaffen. — In der weiteren Aus-
führung seines Staatsideals verliert sich Fichte
in weltfremde Konstruktionen, die im einzelnen
oft merkwürdig an Platos „Gesetze“ erinnern.
Die Arbeit, soweit sie nicht geistige, sondern
Tätigkeit in der Sinnenwelt ist, zerfällt in Pro-
duktion, in Verarbeitung und in Handelsaus-
tausch der Güter. Auch hier soll in sozialistischer
Weise der Staat eine Reglung vornehmen, indem
er Produzenten, Künstler und Kaufleute durch
strenge Innungsordnungen gliedert. Um diese
Gliederung aber durchzuführen, muß der Staat
nicht nur in juristischer, sondern auch in ökonomi-
scher Beziehung in sich selbstgenügend oder in sich
geschlossen sein; er muß vom Welthandel unab-
hängig sein und durch den Güteraustausch inner-
halb seiner Grenzen alle natürlichen Bedürfnisse
befriedigen können (das bedeutet der „geschlossene
Handelsstaat“). Um dies zu erreichen, muß er zu
seinen „natürlichen Grenzen“ ausgedehnt oder auf
diese zurückgeführt werden. Sein Gebiet muß so
abgemessen sein, daß es die nötigen Bodenprodukte
liefert und daß die (nötigenfalls durch staatliche
Förderung bis zur erforderlichen Leistungsfähig-
keit auszubauende) Industrie den ausreichenden
Abnehmerkreis findet. Der Welthandel wird (wie
bei Plato) durch Einführung eines nur im Lande
gültigen Geldes unterbunden (die Fichtesche Theorie
des Geldes nimmt übrigens trotz mancher Naivität
verschiedene moderne Gedanken vorweg); für den
Binnenhandel geben feste Preisbestimmungen das
Maß, bei denen der Preis durch eine umständliche
Zurückführung auf das gesamte Arbeitsquantum
von Amts wegen berechnet werden soll. — Natür-
lich verhehlt sich Fichte nicht, daß die Verwirk-
lichung eines solchen Zukunftsstaates als angeb-
lichen Vernunftideals nicht sofort möglich sei;
aber die „Politik“ als eine besondere Disziplin
soll die Kunst sein, von dem empirisch Gegebenen
allmählich zum Vernunftgemäßen hinzuführen.
7. Noch weiter in der Zweckbestimmung des
Staates geht Fichte in der letzten Gestalt seiner
Philosophie. Jetzt setzt er dem „Staate im ge-
wöhnlichen Sinne des Wortes“ (VII 384), d. h.
dem Rechts= und irdischen Wohlfahrtsstaate, den
vollkommenen Staat, den Staat im absoluten
Sinn entgegen, der zugleich eine sittliche Aufgabe
hat und zu dem der bestehende Staat sich zu er-
heben bestimmt ist. Dieser vollkommene Staat ist
nicht aus den Individuen konstruiert, sondern hat
die Kultur der Gattung als Zweck. Während der
gewöhnliche Staat nur bis zur guten Sitte, nicht
bis zur eigentlichen Sittlichkeit, noch weniger bis