Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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zur Religion reicht, betrachtet Fichte jetzt die Sitt- 
lichkeit als letzten Staatszweck und den Rechtsstaat 
als Vorstufe zu diesem vollkommenen Staat. Da- 
mit berührt sich, was Fichte früher streng trennte: 
Staat und Kirche, Vernunftforderung und Christen- 
tum. Das „Reich“, das zu uns kommen soll, ist 
die Vollendung des Staates. 
Eine solche sittlich = religiöse Vollendung des 
Staates aber ist nur möglich, wenn durch An- 
stalten für die Bildung aller Glieder der Nation 
eine allgemeine Erneuerung der Nation herbei- 
geführt wird (NW. II 539 ff). Leiter solcher An- 
stalten sind die Gelehrten, die den Beamten und 
den Kirchendienern schon früher von Fichte in 
den Vorlesungen über die „Bestimmung des Ge- 
lehrten“ und anderswo (z. B. IV 250 ff) als 
Träger des Fortschrittes zur Vernunft vorangestellt 
wurden. Sie müssen Herrscher werden. So wird 
der Staat Lehrer= und Erziehungsstaat, und 
Fichtes Staatstheorie ist damit bei der Utopie der 
platonischen „Politeia“ angelangt. 
Literatur. Eine Gesamtausgabe von F.s 
Werken besorgte 1845/47 in 11 Bdn dessen Sohn, 
Imanuel Hermann Fichte, von dem auch die „Nach- 
gelassenen Werke“ 1834/35 in 3 Bänden sowie 
„J. G. Fichtes Leben u. literar. Briefwechsel“ in 
2 Bdn (21862) herausgegeben wurden. Darstel- 
lungen bei Erdmann, überweg-Heinze IV, Zeller, 
Windelband, Kuno Fischer VI#; bei J. H. Fichte, 
Die philos. Lehren von Recht, Staat u. Sitte in 
Deutschland, Frankreich u. England (1850) 44 f, 
u. Bluntschli, Geschichte der neueren Staatswissen- 
schaft, Allgemeines Staatsrecht u. Politik (31881); 
Schmoller, Zur Literaturgeschichte der Staats= u. 
Sozialwissenschaft (1888); Th. Ziegler, Die gei- 
stigen u. sozialen Strömungen des 19. Jahrh. 
(21901). Ferner W. Busse, F. u. seine Beziehung 
zur Gegenwart d. deutsch. Volkes (2 Bde, 1848/49); 
Löwe, Die Philosophie F.s (1862); Lassalle, Die 
Philosophie F.# (1862); ders., F.3 politisches Ver- 
mächtnis u. die neueste Gegenwart (21877); J. B. 
Meyer, F., Lassalle u. der Sozialismus (1878); 
Ad. Lasson, F. im Verhältnis zu Kirche u. Staat 
(1863); E. Lask, F.s Idealismus u. die Geschichte 
(1902); X. Léon, La philosophie de Fichte, ses 
rapports avec la conscience contemporaine 
(1902); E. Beurlier, F. (Par. 1904); Fr. Medicus, 
F. (1905). Eine Darstellung der Soziologie F.s 
hat Schmidt-Warneck 1884 gegeben; „F. als Poli- 
tiker“ behandelt Zeller, Vorträge u. Abhandlungen 
1140 ff; über „F.s Sozialismus u. sein Verhält- 
nis zur Marxschen Doktrin“ vgl. Marianne Weber 
(Volkswirtsch. Abhandl. der badischen Hochschulen 
IV 3 (19001). [Cl. Baeumker.) 
Fideikommiß s. Familienfideikommiß. 
Filangieri, Gastano, geboren zu Neapel 
den 18. Aug. 1752, entstammte einer der vier vor- 
nehmsten Familien des normannisch-neapolitani- 
schen Altadels, erhielt sehr früh eine Offiziersstelle, 
wandte sich aber dann der Advokatur zu (1774). 
Später nahm er ein Hofamt an (1777), lebte 
aber meist in einsamer Geistesarbeit auf seinem 
Landsitz zu Cava. 1787 wurde er zum Mitglied 
des obersten Rates der Finanzen berufen; die 
Fideikommiß — Filangieri. 
  
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Lasten des neuen Amtes aber beschleunigten nur 
seinen Tod, welchen seine geschwächte Gesundheit 
schon vorher befürchten ließ. Er starb am 21. Juli 
1788. 
Filangieri warf sich mit dem vollen Feuereifer 
der Jugend in die aufklärerische Strömung seines 
Jahrhunderts. Erleuchtung der Welt durch die 
Philosophie, allgemeine Freiheit der Völker unter 
der Herrschaft der Vernunft — das waren seine 
Ideale. Goethe erzählt von Filangieri (Italien. 
Reise. Neapel, 5. März 1787): „Gar bald machte 
er mich mit einem alten Schriftsteller bekannt, an 
dessen unergründlicher Tiefe sich diese neueren 
italienischen Gesetzfreunde höchlich erquicken und 
erbauen; er heißt J. B. Vico. Sie ziehen ihn 
dem Montesquien vor.“ Neben Vico (s. d. Art.) 
und Berccaria (s. d. Art.) war Montesquien Fi- 
langieris Vorbild. Aber er wollte über ihn hinaus- 
gehen, insofern jener nur den Grund dessen, was 
geschehen ist, durch die Erforschung der Gesetze zu 
finden gesucht habe; er aber wolle die Regeln für 
das, was geschehen solle, daraus herleiten. Eine 
Politik der Gesetzgebung, das System einer mög- 
lichst vollkommenen, in allen ihren Teilen zu- 
sammenhängenden Gesetzgebung zu entwickeln, 
setzte er sich zur Aufgabe in dem Hauptwerk seines 
Lebens: La scienza della legislazione, dbessen 
Veröffentlichung im Jahr 1780 begann. 
Den Ursprung der Gesellschaft erblickt 
Filangieri in einem gegenseitigen Schutzvertrag 
der Individuen, welcher einem vorhergehenden 
Zustand der Freiheit, zugleich aber des Krieges 
aller gegen alle ein Ende setzte; Filangieri leitet 
aber den Gesellschaftsvertrag mehr aus zwingender 
Notwendigkeit als aus freier Willensüberein- 
stimmung her. Die Aufgabe der Gesellschaft ist, 
ihre Erhaltung und die Ruhe zu verwirklichen; 
folglich ist dies auch der einzige Gegenstand der 
Gesetzgebung. Doch nimmt Filangieri die Auf- 
gabe der öffentlichen Gewalt viel weiter, als die 
Fassung dieses Prinzips annehmen ließe. Die 
Gesetzgebung ist an bestimmte Regeln gebunden; 
einige derselben sind absolut feststehend, andere 
relativ. Die ersteren sind die universellen Grund- 
sätze der Moral, der allgemeinen Vernunft, dann 
die Gebote der Offenbarung, mit welchen die Ge- 
setze unbedingt übereinstimmen müssen. Relativ 
bestimmt sich die Güte der Gesetze nach ihrer An- 
passung an die Naturanlage des Volkes, Lage, 
Klima, Fruchtbarkeit des Landes, an die Religion 
und Regierungsform usw. (erstes Buch). 
Im zweiten Buch erörtert Filangieri die poli- 
tischen und ökonomischen Gesetze. Mit richtigem 
Blick stellt er die Lehre von der Bevölkerung voran. 
Ganz im Geiste seiner Zeit drängt er auf Beseiti- 
gung aller Hindernisse der Volksvermehrung; er 
fordert vor allem Aufhebung des Lehnswesens und 
die Säkularisation des Kirchengutes, um durch 
Parzellierung des Grundbesitzes einen zahlreichen 
Stand kleiner Eigentümer zu schaffen. Den Zöli- 
bat will er übrigens nicht angetastet wissen. Mit
	        
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