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starken Worten eifert er gegen die Entvölkerung
der Provinzen zugunsten der Hauptstadt, welchem
Üübel er durch Dezentralisation der Verwaltung
und der Justiz Einhalt zu tun hofft. Filangieri
ist Physiokrat; der Ackerbau ist ihm erste und ab-
solute Quelle des Reichtums, die Grundsteuer die
einzig berechtigte Steuer, welche die Grundbesitzer
auf die übrigen Klassen der Bevölkerung abzu-
wälzen vermögen. Indirekte Steuern, Schutzzölle
verwirft Filangieri, verlangt vielmehr allgemeine
Freiheit der Industrie und des Handels.
Im dritten- Buch handelt Filangieri von den
„peinlichen Gesetzen“. Dieser Teil seines Werkes,
der ausführlichste, mit der Begründung mancher
Reformen im Strafrecht und Strafverfahren,
sichert ihm noch heute Anerkennung. Filangieri
tritt für das Prinzip der Privatanklage ein; nur
für solche Verbrechen, welche sonst ohne Verfolgung
bleiben würden, soll ein öffentlicher Ankläger auf-
treten. Zeigt sich eine Anklage unbegründet, so
leistet der Privatankläger dem unschuldig Ver-
folgten Ersatz; für den öffentlichen Kläger bestreitet
diesen eine besondere Kasse. Der Verteidigung ist
die größtmögliche Freiheit zu verstatten, streng
auszuschließen der Mißbrauch sentimentaler Be-
redsamkeit. Seiner Strafgerichtsverfassung dient
im ganzen als Vorbild jene Englands: Scheidung
der Tat- und Rechtsfrage zwischen Geschwornen
und Richter. Besonders eindringend und erfolg-
reich sind Filangieris Ausführungen gegen die
grausame Verkehrtheit, das Geständnis des Schul-
digen durch alle Mittel, auch die Folter, erreichen
zu wollen. Filangieri will das Urteil des Richters
auf die moralische Gewißheit begründet wissen,
hält es jedoch für notwendig, auch dafür eine An-
zahl Regeln vorzuschreiben, von denen aber nur
die eine, daß zwei klassische Zeugen vollen Beweis
machen, rein formalen Charakter an sich trägt.
Filangieri teilt im ganzen die Straftheorie
Beccarias, nur erklärt er sich für die Todesstrafe,
aber mit schwacher Begründung: Im Urzustand
hätte jeder das Recht gehabt, zu strafen, selbst zu
töten; dieses Recht aller wäre nun auf den Staat
übergegangen! Doch will er die Todesstrafe mög-
lichst beschränken in der Ausübung. Das Begna-
digungsrecht verwirft er als Mißachtung des Ge-
setzes; es sei ein Recht des Despotismus! Wucher
soll nicht bestraft werden; das Gesetz solle dem
Reichen in der Verwendung seines Reichtums die
größte Freiheit lassen. Ehebruch soll durch jedes
andere Mittel, nur nicht durch Strafen, verhütet
werden.
Hinsichtlich der öffentlichen Erziehung und des
Unterrichts entwirft Filangieri im vierten Buch
den Plan einer staatlichen Erziehung der ganzen
Bevölkerung, welcher an aufgeklärter Tyrannei
seinesgleichen sucht. Ist doch selbst Nahrung,
Kleidung und Tragen der Haare bei den Knaben
vorgeschrieben. Filangieri steht hier ganz und gar
unter dem Einfluß platonischer Ideen, wie er denn
überhaupt das klassische Altertum weit besser kannte
Filangieri.
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als diechristlich-germanische Rechtsentwicklung des
Mittelalters und der folgenden Jahrhunderte.
Das fünfte Buch sollte die Gesetze, welche die
Religion betreffen, behandeln; aber es ist nur ein
Bruchstück von geringer Bedeutung veröffentlicht
worden. Das sechste und siebte Buch, welche Eigen-
tums= und Familienrecht zur Darstellung bringen
sollten, konnte Filangieri nicht mehr bearbeiten.
Filangieris Verdienste werden längst und mit
Recht sehr viel niedriger angeschlagen, als seine
Zeitgenossen dies taten. Es fehlte ihm vor allem
an Kenntnis der Geschichte der Tatsachen über-
haupt. Wie leicht er in die Irre ging, beweist
unter anderem sein Urteil, England kehre wieder
in seine Kindheit zurück, das Zepter Europas
gehe auf die Moskowiter über, die es durch Gesetze
verdienten, alle Europäer würden vielleicht von
dieser nüchternen Nation Gesetze annehmen müssen
— alles, weil England gegen die amerikanischen
Kolonien kämpfte und Katharina II. Gesetzentwürfe
im Geist Montesquiens und Beccarias hervor-
rief! Ein Grundzug seines Wesens wie seiner
Zeit spricht sich in seiner Rechtfertigung der Preß-
freiheit aus: Jeder müsse das Recht haben, seine
Gedanken, welche zur Förderung des allgemeinen
Wohles beitragen könnten, öffentlich vorzulegen,
weil er die Pflicht habe, an der Wohlfahrt der
Gesellschaft mitzuarbeiten. — Der Glaube an die
eigene Kraft, die Welt zu verbessern, ist unerschüt-
terlich, um so größer die Geringschätzung „der
ungereimten Einrichtungen einer barbarischen Ver-
gangenheit“. Aller Humanitätseifer schützt aber
nicht vor harter Willkür und Rechtsbruch, wie es
Filangieris Erziehungsvorschläge, seine Säkulari-
sationspläne beweisen.
Er lehrte auch die Berechtigung der Leiden-
schaft der politischen Gewalt als Grundlage der
politischen Bewegung mit nackten Worten. „Kann
man nicht sagen“, heißt es (Scienza I, c. 12),
„daß eine einzige, aber in ihrer Anwendung immer
mannigfaltige Ursache das Prinzip der alle Staaten
gemeinsam bewegenden Tätigkeit ist, und daß diese
Ursache die Liebe zur Gewalt ist? Wenn es wahr
ist, daß die Liebe zum Vergnügen, die Lust, und
die Abneigung vor dem Schmerz, die Unlust, die
beiden bewegenden Kräfte für die Handlungen des
Menschen sind, so ist es nicht schwer, zu zeigen,
daß die Liebe zur Gewalt das wahre und eigent-
liche Prinzip der Tätigkeit aller Regierungen ist;
denn die Liebe zur Gewalt hat ihren Ursprung in
der Liebe zum Vergnügen. Jeder Mensch wünscht
glücklich zu sein und folglich auf einer solchen Stufe
der Macht zu stehen, daß die übrigen Menschen
zu seinem Glück beitragen müssen.“ In diesem
freien Eingeständnis haben wir das letzte Wort
der utilitaristischen Politik, die notwendige Fol-
gerung aus jener Aufklärungsmoral, welche Fi-
langieri im Gegensatz zu Vico und der älteren
neapolitanischen Schule zu einem der Hauptführer
des gewalttätigen antichristlichen Liberalismus in
Italien machte.