Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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starken Worten eifert er gegen die Entvölkerung 
der Provinzen zugunsten der Hauptstadt, welchem 
Üübel er durch Dezentralisation der Verwaltung 
und der Justiz Einhalt zu tun hofft. Filangieri 
ist Physiokrat; der Ackerbau ist ihm erste und ab- 
solute Quelle des Reichtums, die Grundsteuer die 
einzig berechtigte Steuer, welche die Grundbesitzer 
auf die übrigen Klassen der Bevölkerung abzu- 
wälzen vermögen. Indirekte Steuern, Schutzzölle 
verwirft Filangieri, verlangt vielmehr allgemeine 
Freiheit der Industrie und des Handels. 
Im dritten- Buch handelt Filangieri von den 
„peinlichen Gesetzen“. Dieser Teil seines Werkes, 
der ausführlichste, mit der Begründung mancher 
Reformen im Strafrecht und Strafverfahren, 
sichert ihm noch heute Anerkennung. Filangieri 
tritt für das Prinzip der Privatanklage ein; nur 
für solche Verbrechen, welche sonst ohne Verfolgung 
bleiben würden, soll ein öffentlicher Ankläger auf- 
treten. Zeigt sich eine Anklage unbegründet, so 
leistet der Privatankläger dem unschuldig Ver- 
folgten Ersatz; für den öffentlichen Kläger bestreitet 
diesen eine besondere Kasse. Der Verteidigung ist 
die größtmögliche Freiheit zu verstatten, streng 
auszuschließen der Mißbrauch sentimentaler Be- 
redsamkeit. Seiner Strafgerichtsverfassung dient 
im ganzen als Vorbild jene Englands: Scheidung 
der Tat- und Rechtsfrage zwischen Geschwornen 
und Richter. Besonders eindringend und erfolg- 
reich sind Filangieris Ausführungen gegen die 
grausame Verkehrtheit, das Geständnis des Schul- 
digen durch alle Mittel, auch die Folter, erreichen 
zu wollen. Filangieri will das Urteil des Richters 
auf die moralische Gewißheit begründet wissen, 
hält es jedoch für notwendig, auch dafür eine An- 
zahl Regeln vorzuschreiben, von denen aber nur 
die eine, daß zwei klassische Zeugen vollen Beweis 
machen, rein formalen Charakter an sich trägt. 
Filangieri teilt im ganzen die Straftheorie 
Beccarias, nur erklärt er sich für die Todesstrafe, 
aber mit schwacher Begründung: Im Urzustand 
hätte jeder das Recht gehabt, zu strafen, selbst zu 
töten; dieses Recht aller wäre nun auf den Staat 
übergegangen! Doch will er die Todesstrafe mög- 
lichst beschränken in der Ausübung. Das Begna- 
digungsrecht verwirft er als Mißachtung des Ge- 
setzes; es sei ein Recht des Despotismus! Wucher 
soll nicht bestraft werden; das Gesetz solle dem 
Reichen in der Verwendung seines Reichtums die 
größte Freiheit lassen. Ehebruch soll durch jedes 
andere Mittel, nur nicht durch Strafen, verhütet 
werden. 
Hinsichtlich der öffentlichen Erziehung und des 
Unterrichts entwirft Filangieri im vierten Buch 
den Plan einer staatlichen Erziehung der ganzen 
Bevölkerung, welcher an aufgeklärter Tyrannei 
seinesgleichen sucht. Ist doch selbst Nahrung, 
Kleidung und Tragen der Haare bei den Knaben 
vorgeschrieben. Filangieri steht hier ganz und gar 
unter dem Einfluß platonischer Ideen, wie er denn 
überhaupt das klassische Altertum weit besser kannte 
Filangieri. 
  
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als diechristlich-germanische Rechtsentwicklung des 
Mittelalters und der folgenden Jahrhunderte. 
Das fünfte Buch sollte die Gesetze, welche die 
Religion betreffen, behandeln; aber es ist nur ein 
Bruchstück von geringer Bedeutung veröffentlicht 
worden. Das sechste und siebte Buch, welche Eigen- 
tums= und Familienrecht zur Darstellung bringen 
sollten, konnte Filangieri nicht mehr bearbeiten. 
Filangieris Verdienste werden längst und mit 
Recht sehr viel niedriger angeschlagen, als seine 
Zeitgenossen dies taten. Es fehlte ihm vor allem 
an Kenntnis der Geschichte der Tatsachen über- 
haupt. Wie leicht er in die Irre ging, beweist 
unter anderem sein Urteil, England kehre wieder 
in seine Kindheit zurück, das Zepter Europas 
gehe auf die Moskowiter über, die es durch Gesetze 
verdienten, alle Europäer würden vielleicht von 
dieser nüchternen Nation Gesetze annehmen müssen 
— alles, weil England gegen die amerikanischen 
Kolonien kämpfte und Katharina II. Gesetzentwürfe 
im Geist Montesquiens und Beccarias hervor- 
rief! Ein Grundzug seines Wesens wie seiner 
Zeit spricht sich in seiner Rechtfertigung der Preß- 
freiheit aus: Jeder müsse das Recht haben, seine 
Gedanken, welche zur Förderung des allgemeinen 
Wohles beitragen könnten, öffentlich vorzulegen, 
weil er die Pflicht habe, an der Wohlfahrt der 
Gesellschaft mitzuarbeiten. — Der Glaube an die 
eigene Kraft, die Welt zu verbessern, ist unerschüt- 
terlich, um so größer die Geringschätzung „der 
ungereimten Einrichtungen einer barbarischen Ver- 
gangenheit“. Aller Humanitätseifer schützt aber 
nicht vor harter Willkür und Rechtsbruch, wie es 
Filangieris Erziehungsvorschläge, seine Säkulari- 
sationspläne beweisen. 
Er lehrte auch die Berechtigung der Leiden- 
schaft der politischen Gewalt als Grundlage der 
politischen Bewegung mit nackten Worten. „Kann 
man nicht sagen“, heißt es (Scienza I, c. 12), 
„daß eine einzige, aber in ihrer Anwendung immer 
mannigfaltige Ursache das Prinzip der alle Staaten 
gemeinsam bewegenden Tätigkeit ist, und daß diese 
Ursache die Liebe zur Gewalt ist? Wenn es wahr 
ist, daß die Liebe zum Vergnügen, die Lust, und 
die Abneigung vor dem Schmerz, die Unlust, die 
beiden bewegenden Kräfte für die Handlungen des 
Menschen sind, so ist es nicht schwer, zu zeigen, 
daß die Liebe zur Gewalt das wahre und eigent- 
liche Prinzip der Tätigkeit aller Regierungen ist; 
denn die Liebe zur Gewalt hat ihren Ursprung in 
der Liebe zum Vergnügen. Jeder Mensch wünscht 
glücklich zu sein und folglich auf einer solchen Stufe 
der Macht zu stehen, daß die übrigen Menschen 
zu seinem Glück beitragen müssen.“ In diesem 
freien Eingeständnis haben wir das letzte Wort 
der utilitaristischen Politik, die notwendige Fol- 
gerung aus jener Aufklärungsmoral, welche Fi- 
langieri im Gegensatz zu Vico und der älteren 
neapolitanischen Schule zu einem der Hauptführer 
des gewalttätigen antichristlichen Liberalismus in 
Italien machte.
	        
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