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Was ist demnach der Kapitalismus? Wir
verstehen darunter jenes volkswirtschaft-
liche System, in dem das Kapital zu
dem die Produktion und die Vertei-
lung des Produktionsertragesbeherr-
schenden Faktor gegenüber dem andern
wirtschaftlichen Faktor, der mensch-
lichen Arbeit, geworden ist. Dieses Über-
gewicht des Kapitals über die Arbeit besagt
keineswegs, daß das Kapital zu höheren An-
sprüchen berechtigt ist als die Arbeit, sondern
es bezeichnet dasselbe lediglich einen gegebenen
Tatbestand, das Ergebnis einer gewissen histo-
rischen Entwicklung. Diese hat dazu geführt, die
Verbindung von Kapital und Arbeit in einer
Hand zu lösen und den feindseligen Gegensatz
zwischen dem Besitzer der Arbeitskraft und dem
Besitzer der Produktionsmittel hervorzurufen.
In diesem Sinne wird das Wort Kapitalis-
mus vorzüglich gebraucht. Man will damit ein
System bezeichnen, in welchem das naturgemäße
Verhältnis von Arbeit und Kapital gestört ist, in
welchem die Interessen beider Wirtschaftsfaktoren
feindlich aufeinanderstoßen und durch die soziale
Zerklüftung der Bestand des herrschenden Sy-
stems selbst in Frage gestellt ist. Mit dem Be-
griff des Kapitalismus verbindet sich somit stets
der Rebengedanke, daß mit diesem System, wo es
sich rein darstellt, eine Reihe von schweren wirt-
schaftlichen und sozialen Ubelständen verknüpft ist.
Und es wird wohl auch kaum zu bestreiten ver-
sucht, daß sich dem Kapitalismus zahlreiche Un-
vollkommenheiten und Übelstände nachsagen lassen,
die auf die verschiedensten Lebensgebiete hinüber-
wirken, zum Teil aber auch schon auf demjenigen
Gebiete sich fühlbar machen, auf welchem die ur-
eigenste Wirksamkeit des Kapitals liegt, auf dem
Gebieteder Produktion (Böhm-Bawerka. a. O. 25).
2. Merkmale der kapitalistischen Ge-
sellschaftsordnung. In Ergänzung dieser
allgemeinen Begriffsbestimmung des Kapitalismus
lassen sich noch einige charakteristische Züge oder
Begleiterscheinungen desselben anführen:
a) Das Unmsichgreifen des Großkapitals und
die wilde Spekulationswut, die den regel-
los stürmischen Wellengang der modernen Wirt-
schaftsverhältnisse hervorruft. Hierüber äußert
sich ein konservativer Sozialpolitiker wie Adolf
Wagner: „Das Großkapital wird ökonomisch,
sozial, politisch immer mächtiger und bewährt
seine Anziehungs= und Verschmelzungskraft. Die
bisherigen Klein-, Mittel= und selbst Großbetriebe
und Güter werden in ihrer Widerstandsfähig-
keit gegen die aufsaugende Tendenz des privaten
Großkapitals untergraben. Ein Enteignungs-
und Enterbungsprozeß greift Platz. Latifundien,
Pächterwesen, Proletariertum sind über kurz oder
lang die immer allgemeinere Folge. Neue Ab-
hängigkeitsverhältnisse großer Volksschichten vom
Privakkapital entstehen. Wilde Spekulatio-
nen ergreifen immer mehr wirtschaft-
Kapital usw.
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liche Gebiete. Die notwendigen Rückschläge
davon, Krisen und flaue Perioden, verbreiten un-
endliches Elend über Schuldige und Unschuldige.
Zum Spielobjekt wird alles, Mobil und Im-
mobil, zu Spielern alle, jeder sucht die „Kon-
junkturen“ auszubeuten und zu seinem Vorteil
zu wenden, sie selbst künstlich zu schaffen. Der
geriebenste und gewissenloseste siegt, und den
letzten — beißen die Hunde. . . . Alle die Dinge,
die den Triumph des menschlichen Geistes im
19. Jahrh. bilden, werden alsbald eigensüchtig
von der Spekulation ausgenutzt, dienen selbst
wieder nur dazu, die, Produktion regelloser“, das
Erwerbsleben ruheloser zu machen, den einen un-
ermeßliche Reichtümer, oft nicht zu ihrem Segen,
nicht einmal immer zu ihrem Genuß zuzuführen,
die viel zahlreicheren andern nur noch abhängiger,
unselbständiger, in Erwerb und Lebensstellung
unsicherer, zugleich aber unzufriedener, neidischer,
trotziger zu machen“ (Finanzwissenschaft und
Staatssozialismus, in der Zeitschr. für die ges.
Staatswissenschaften, Tübingen 1887, 122; Lot-
mar, Der Arbeitsvertrag, 2 Bde, Leipzig 1908 ff;
vgl. Pesch, Die soziale Befähigung der Kirche
[ 1889] 363).
b) Durch die für immer größere Volksteile
eintretende Verschlechterung der ökonomischen Lage
und die zunehmende Verderbnis der Moral, der
Individual= wie der Sozialmoral, wird auch das
soziale Zusammenleben sehr ungünstig beeinflußt.
Trotzdem das System des Kapitalismus geeignet
ist, die Produktivkräfte unglaublich zu steigern,
bewirkt es doch eine wirtschaftlich wie sozial nach-
teilige Verteilung des Produktionsertrages. Die
schwelgerische Genußsucht, die riesenhafte An-
häufung in den Händen einzelner Geldfürsten,
die rücksichtslose Ausbeutung der wirtschaftlich
Schwächeren, sei es der weniger Kapital Besitzen-
den oder der besitzlosen Lohnarbeiter, korresponds#ert
auf der andern Seite der Gesellschaft mit menschen-
unwürdiger Existenz (Proletariertum), Brutalität
und Haß gegen die Besitzenden. Daher ist ein
weiteres Merkmal des Kapitalismus
c) die fortwährende Kampfesstim-
mung, die zwischen den Unternehmern (Kapita-
listen) und den Arbeitern herrscht. Beide stehen
sich wie zwei feindliche Heerlager gegenüber und
sind auch tatsächlich organisiert und diszipliniert
wie kampfbereite Armeen: die Unternehmer in den
Kartellen, die Arbeiter in den Gewerkschaften; die
ersteren bedienen sich als Kampfesmittels der Aus-
sperrung unbequemer Arbeiter, letztere des Strikes,
der gemeinsamen Arbeitsniederlegung in den Eta-
blissements widerspenstiger Unternehmer. Bei
solchen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit ent-
scheidet gar oft nicht das Recht, sondern die Macht.
„Der Riß zwischen dem besitzenden, aristokratischen
Teil der bürgerlichen Welt, der „Bourgeoisie“,
und dem nicht besitzenden, um Lohn arbeitenden
Teil derselben, dem Proletariat, ist nun nicht mehr
bloß in der äußeren tatsächlichen Erscheinung von