Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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Was ist demnach der Kapitalismus? Wir 
verstehen darunter jenes volkswirtschaft- 
liche System, in dem das Kapital zu 
dem die Produktion und die Vertei- 
lung des Produktionsertragesbeherr- 
schenden Faktor gegenüber dem andern 
wirtschaftlichen Faktor, der mensch- 
lichen Arbeit, geworden ist. Dieses Über- 
gewicht des Kapitals über die Arbeit besagt 
keineswegs, daß das Kapital zu höheren An- 
sprüchen berechtigt ist als die Arbeit, sondern 
es bezeichnet dasselbe lediglich einen gegebenen 
Tatbestand, das Ergebnis einer gewissen histo- 
rischen Entwicklung. Diese hat dazu geführt, die 
Verbindung von Kapital und Arbeit in einer 
Hand zu lösen und den feindseligen Gegensatz 
zwischen dem Besitzer der Arbeitskraft und dem 
Besitzer der Produktionsmittel hervorzurufen. 
In diesem Sinne wird das Wort Kapitalis- 
mus vorzüglich gebraucht. Man will damit ein 
System bezeichnen, in welchem das naturgemäße 
Verhältnis von Arbeit und Kapital gestört ist, in 
welchem die Interessen beider Wirtschaftsfaktoren 
feindlich aufeinanderstoßen und durch die soziale 
Zerklüftung der Bestand des herrschenden Sy- 
stems selbst in Frage gestellt ist. Mit dem Be- 
griff des Kapitalismus verbindet sich somit stets 
der Rebengedanke, daß mit diesem System, wo es 
sich rein darstellt, eine Reihe von schweren wirt- 
schaftlichen und sozialen Ubelständen verknüpft ist. 
Und es wird wohl auch kaum zu bestreiten ver- 
sucht, daß sich dem Kapitalismus zahlreiche Un- 
vollkommenheiten und Übelstände nachsagen lassen, 
die auf die verschiedensten Lebensgebiete hinüber- 
wirken, zum Teil aber auch schon auf demjenigen 
Gebiete sich fühlbar machen, auf welchem die ur- 
eigenste Wirksamkeit des Kapitals liegt, auf dem 
Gebieteder Produktion (Böhm-Bawerka. a. O. 25). 
2. Merkmale der kapitalistischen Ge- 
sellschaftsordnung. In Ergänzung dieser 
allgemeinen Begriffsbestimmung des Kapitalismus 
lassen sich noch einige charakteristische Züge oder 
Begleiterscheinungen desselben anführen: 
a) Das Unmsichgreifen des Großkapitals und 
die wilde Spekulationswut, die den regel- 
los stürmischen Wellengang der modernen Wirt- 
schaftsverhältnisse hervorruft. Hierüber äußert 
sich ein konservativer Sozialpolitiker wie Adolf 
Wagner: „Das Großkapital wird ökonomisch, 
sozial, politisch immer mächtiger und bewährt 
seine Anziehungs= und Verschmelzungskraft. Die 
bisherigen Klein-, Mittel= und selbst Großbetriebe 
und Güter werden in ihrer Widerstandsfähig- 
keit gegen die aufsaugende Tendenz des privaten 
Großkapitals untergraben. Ein Enteignungs- 
und Enterbungsprozeß greift Platz. Latifundien, 
Pächterwesen, Proletariertum sind über kurz oder 
lang die immer allgemeinere Folge. Neue Ab- 
hängigkeitsverhältnisse großer Volksschichten vom 
Privakkapital entstehen. Wilde Spekulatio- 
nen ergreifen immer mehr wirtschaft- 
Kapital usw. 
  
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liche Gebiete. Die notwendigen Rückschläge 
davon, Krisen und flaue Perioden, verbreiten un- 
endliches Elend über Schuldige und Unschuldige. 
Zum Spielobjekt wird alles, Mobil und Im- 
mobil, zu Spielern alle, jeder sucht die „Kon- 
junkturen“ auszubeuten und zu seinem Vorteil 
zu wenden, sie selbst künstlich zu schaffen. Der 
geriebenste und gewissenloseste siegt, und den 
letzten — beißen die Hunde. . . . Alle die Dinge, 
die den Triumph des menschlichen Geistes im 
19. Jahrh. bilden, werden alsbald eigensüchtig 
von der Spekulation ausgenutzt, dienen selbst 
wieder nur dazu, die, Produktion regelloser“, das 
Erwerbsleben ruheloser zu machen, den einen un- 
ermeßliche Reichtümer, oft nicht zu ihrem Segen, 
nicht einmal immer zu ihrem Genuß zuzuführen, 
die viel zahlreicheren andern nur noch abhängiger, 
unselbständiger, in Erwerb und Lebensstellung 
unsicherer, zugleich aber unzufriedener, neidischer, 
trotziger zu machen“ (Finanzwissenschaft und 
Staatssozialismus, in der Zeitschr. für die ges. 
Staatswissenschaften, Tübingen 1887, 122; Lot- 
mar, Der Arbeitsvertrag, 2 Bde, Leipzig 1908 ff; 
vgl. Pesch, Die soziale Befähigung der Kirche 
[ 1889] 363). 
b) Durch die für immer größere Volksteile 
eintretende Verschlechterung der ökonomischen Lage 
und die zunehmende Verderbnis der Moral, der 
Individual= wie der Sozialmoral, wird auch das 
soziale Zusammenleben sehr ungünstig beeinflußt. 
Trotzdem das System des Kapitalismus geeignet 
ist, die Produktivkräfte unglaublich zu steigern, 
bewirkt es doch eine wirtschaftlich wie sozial nach- 
teilige Verteilung des Produktionsertrages. Die 
schwelgerische Genußsucht, die riesenhafte An- 
häufung in den Händen einzelner Geldfürsten, 
die rücksichtslose Ausbeutung der wirtschaftlich 
Schwächeren, sei es der weniger Kapital Besitzen- 
den oder der besitzlosen Lohnarbeiter, korresponds#ert 
auf der andern Seite der Gesellschaft mit menschen- 
unwürdiger Existenz (Proletariertum), Brutalität 
und Haß gegen die Besitzenden. Daher ist ein 
weiteres Merkmal des Kapitalismus 
c) die fortwährende Kampfesstim- 
mung, die zwischen den Unternehmern (Kapita- 
listen) und den Arbeitern herrscht. Beide stehen 
sich wie zwei feindliche Heerlager gegenüber und 
sind auch tatsächlich organisiert und diszipliniert 
wie kampfbereite Armeen: die Unternehmer in den 
Kartellen, die Arbeiter in den Gewerkschaften; die 
ersteren bedienen sich als Kampfesmittels der Aus- 
sperrung unbequemer Arbeiter, letztere des Strikes, 
der gemeinsamen Arbeitsniederlegung in den Eta- 
blissements widerspenstiger Unternehmer. Bei 
solchen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit ent- 
scheidet gar oft nicht das Recht, sondern die Macht. 
„Der Riß zwischen dem besitzenden, aristokratischen 
Teil der bürgerlichen Welt, der „Bourgeoisie“, 
und dem nicht besitzenden, um Lohn arbeitenden 
Teil derselben, dem Proletariat, ist nun nicht mehr 
bloß in der äußeren tatsächlichen Erscheinung von
	        
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