Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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wo er sie nach Beginn der zweiten Restauration 
vollendete. Der junge Mann ließ sich am 25. Dez. 
1815, kaum aus England zurück, die Subdiako- 
nats-, bald darauf in Saint-Brieuc die Diako- 
nats= und schon am 9. März 1816 in Vannes 
die Priesterweihe erteilen. Liest man die von 
Lamennais vor und nach den Weihen entwor- 
fenen, von seiner Umgebung bestätigten Selbst- 
schilderungen des endlosen Wechsels seiner Seelen- 
stimmungen, so muß man sagen: die Berufs- 
frage blieb ungelöst; über die Frage, ob die 
große Standesgnade des Priestertums, die Mit- 
wirkung mit ihr ihn zur siegreichen Uberwindung 
der Prüfungen des Lebens befähigte, konnte nur 
das für ihn jetzt beginnende öffentliche Leben ent- 
scheiden. 
Unerwartet fand er sich schon 1818 mit dem 
Erscheinen seiner Indifféörence en matiere de 
Religion vor eine solche Prüfung für sein junges 
Leben, die des allseits laut und rückhaltlos ge- 
spendeten Ruhmes als des „neuen Apologeten des 
wiedererstandenen Christentums“, gestellt. Seit 
Mai 1802, wo Chateaubriands Génie du Chri- 
stianisme erschien, war keine Verteidigung des 
religiösen Glaubens von so überwältigendem Ein- 
druck vor die Offentlichkeit getreten: „ein Erd- 
beben unter bleiernem Himmel“ nannte es J. de 
Maistre. In der Tat war das nicht mehr die 
Sprache eines Dichters, sondern eines Propheten. 
Indifferenz gegen die religiöse Wahrheit, lehrte 
Lamennais, ist widernatürlich, Selbstmord der 
Intelligenz, antisozial; der Mangel an Wahrheit 
tötet die Gesellschaft. Indifferenz ist die Gleich- 
stellung der entgegengesetzten Kulte und Dogmen; 
sie macht aus der Religion ein Staats= und Po- 
lizeiinstitut; gleicher Schutz bedeutet hier gleiche 
Verachtung. Im kaiserlichen Rom, im protestan- 
tischen England, im voltaireanischen Frankreich 
hat die Religion die Aufgabe des Pflugochsen: 
sie arbeitet unter dem Kopfjoch und dem Treib- 
stachel und erhält das Futter. Wenn I. J. Rouf- 
seau nur eine Naturreligion für notwendig er- 
klärt, dabei aber dem äußern Kult jedes Landes 
zu folgen verpflichtet, so ist das nur eine Kon- 
sequenz des Protestantismus, desgleichen die Phan- 
tasien von der Veränderlichkeit der Dogmen, die 
Abstraktionen des Deismus und der aller Sanktion 
entkleideten subjektiven Moral, die Unterscheidung 
zwischen Fundamentaldogmen und religiösen Pri- 
vatmeinungen. Diese Arten von theoretischem In- 
differentismus werden überboten von dem prak- 
tischen Indifferentismus, der Tochter des reli- 
giösen Hochmutes, der geistigen Trägheit im Stu- 
dium der Religion, erzeugt durch die Lust an Ver- 
gnügungen, am Nichts, durch tierische Einschläfe- 
rung im Sinnengenuß. Die Indifferenz ist wider- 
natürlich, ein Verbrechen, eine Torheit; denn die 
Religion ist der Güter höchstes; ohne sie keine 
Wahrheit, keine Liebe zu ihr, keine Herrschaft des 
Geistes über die Materie, keine Menschenwürde; 
ohne sie keinerlei Gesellschaftsverfassung von 
Lamennais. 
  
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Dauer, keine Heiligkeit des Völkerrechts, der Ge- 
setze, der Sitten. Was eine rationalistische „phi- 
losophische“ Zivilisation ohne positive Dogmen 
ist, zeigt die französische Revolution, deren nie 
übertroffene Schilderung den Kern des Buches 
abschließt. 
Der erste Band der Indifférence war und blieb 
das Beste, zugleich Verdienstvollste, was Lamen- 
nais geschrieben hat; der machtvolle, ebenso bilder- 
reiche wie den ganzen Geist des Lesers fesselnde 
und fortreißende, an J. J. Rousseau gebildete 
Stil tritt hier so glänzend hervor, daß auch der 
heutige Leser noch das Wort des Gallikaners 
de Frayssinous versteht: eine solche Stimme könnte 
„Tote aus dem Grabe rusen“. Weniger gefielen 
der bisweilen harte, absprechende Ton der Sprache 
und der zum Schluß der Schrift eingenommene 
apologetische Standpunkt. Auf die Frage, ob 
Gott eine Religion genau erkennbarer Art ver- 
kündet und deren Annahme befohlen habe, ver- 
spricht Lamennais in einer regelrechten Apolo- 
getik, vorab einer philosophischen Einleitung da- 
zu, zurückzukommen. Die Bezeichnung der an- 
gekündigten Philosophie als eines „Requiem auf 
die Philosophen der Schule“, als einer neuen 
und notwendigen, einzig noch für die Verteidigung 
der Religion möglichen, machte bedenklich. Wo 
bleibt denn die tausendjährige, von der Kirche in- 
spirierte, sorgsam geleitete Apologetik der katho- 
lischen Tradition 2 so fragte man sich. 
Der zweite Band der Indiftérence brachte die 
Antwort (1820): eine neue Apologetik. 
Das Prinzip, das Kriterium der Erkenntnis der 
wahren Religion, zugleich das Fundament aller 
Gewißheit ist nicht in der individuellen Vernunft, 
sondern in der Allgemeinvernunft (raison 
générale, sens commun); die Einzelvernunft 
nimmt an dieser Gewißheit nur durch ihre Über- 
einstimmung mit der Allgemeinvernunft teil. Die 
Allgemeinvernunft lehrt uns die Gotteserkenntnis 
und mit ihr alle andern Erkenntnisse; sie bringt 
auch die Geistesgewißheit. Ihre Quelle ist die 
Autorität des Menschengeschlechtes, die dem Zeug- 
nis Gottes in der Uroffenbarung, der Schöpfung 
des Lebens und des Wortes entstammt und un- 
verlierbar, weil von einer unfehlbaren Tradition 
gewährleistet ist. Der Glaube an die Lehren der 
Allgemeinvernunft, an die Uroffenbarung läßt die 
Einzelvernunft an der Unfehlbarkeit des Wortes 
Gottes teilhaben. Diese den Traditionalismus 
de Bonalds (s. Bd L. Sp.938 überbietenden, den 
Unterschied zwischen natürlicher und übernatürlicher 
Offenbarung verwischenden Anschauungen werden 
von Lamennais nicht etwa als Hypothese, sondern 
als die unanfechtbare Grundlage des Wissens und 
der Gewißheit schlechthin aufgestellt und mit kaum 
glaublichen Spitzfindigkeiten verteidigt. Die All- 
gemeinvernunft des Heidentums, der antike Poly- 
theismus zeigt freilich nach außen den Charakter 
des Götzendienstes, allein dem Wesen nach sind in 
ihm alle Dogmen der sozialen Vernunft enthalten;
	        
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