Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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einen so entsetzlichen Ausdruck angenommen, daß 
die Wiederkehr der Greuel von 1793 bevorzustehen 
schien. Der Thron war verschwunden, aber der 
Altar aufrecht geblieben in neuer, weil gänzlich 
veränderter Lage: der Katholizismus als Staats- 
religion war beseitigt, aber die Tatsache, daß er 
die Religion der Mehrheit der Franzoseu war, 
sorderte ihr Recht. Für eine konstitutionelle, regel- 
rechte Lösung der politischen Frage, d. h. für die 
Berufung Heinrichs V. und die Einsetzung der 
Regentschaft des Herzogs von Orleans (Guizot) 
zählten die Katholiken nicht mit wegen des gänz- 
lichen Mangels an politischer Organisation; hin- 
sichtlich der religiösen Frage gewann bei eintreten- 
der größerer Beruhigung der Gedanke Raum, daß 
die Existenz der Kirche keineswegs mit der Existenz. 
einer Dynastie verknüpft sei, und daß erstere mit 
jeder dauernd begründeten Regierung und Regie- 
rungsform sich vertrage, wofern diese Recht und 
Gerechtigkeit übe. Für die Geltendmachung ihrer 
religiösen Freiheiten und Rechte blieb den Katho- 
liken nur die Selbstorganisation und Selbsthilfe 
auf dem Boden des gemeinen Rechts der Charte: 
eine große, schwere Aufgabe, um so mehr, als die 
gallikanische Frage jetzt um die legitimistische ver- 
schärft die Einigung der Katholiken in Frage stellte. 
Drei Monate nach den „glorreichen“ Julitagen 
kündigte Lamennais, auf den aller Augen gerichtet 
waren, die Gründung eines Tagblattes an. Am 
16. Okt. erschien die erste Nummer des Auenir 
unter der Devise: Dieu et Liberté. Ohne andere 
Rücksichtnahme auf die Lage der Zeit und der 
Kirche als die Berufung auf die Charte begann 
jetzt für den kurzen Zeitraum von 18 Monaten, 
geleitet von Lamennais und geführt fast ausschließ- 
lich von der kleinen um ihn stehenden Gruppe: 
Gerbet, Lacordaire, Montalembert, der Kampf 
um die Existenzberechtigung der Kirche auf dem 
Boden des gemeinen Rechts, ein kühner Initiativ- 
kampf nach allen Seiten, so mächtig durch die Ge- 
walt der Ideen und so durchdringend durch den 
Akzent einer neuen, bis dahin nicht gehörten poli- 
tischen Sprache, daß schon nach den ersten Wochen 
das Programm des Avenir auf der Tagesord- 
nung der Julimonarchie stand und fortan blieb. 
Ein ständiges Aktionskomitee, die Agence géné- 
rale zur Verteidigung der religiösen Freiheit, 
wachte über jede Verletzung der Religionsfreiheit 
in ganz Frankreich und führte deren öffentliche 
Ahndung in Schrift, Rede, Untersuchung, Prozeß. 
Der mächtige Widerhall, den der Weckruf zu 
energischer Selbsthilfe in den Kreisen der Katho- 
liken wie ihrer Gegner fand, rief den voltairea- 
nischen Geist der leitenden Staatsmänner und 
Politiker und ihre erneute Verfolgungssucht wach. 
Es zeigte sich indessen bald, daß, je weniger die 
Angriffe der Gegner der Bewegung zu schaden 
vermochten, desto mehr das unselige Temperament 
Lamennais“, sein zügelloser Demokratismus, die 
Unerfahrenheit seiner jugendlichen Mitarbeiter den 
Widerspruch in katholischen Kreisen befestigten und 
Lamennais. 
  
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vertieften. Theologische Irrungen bedenklicher Art, 
Übergriffe in das kirchliche Verwaltungsgebiet, 
herbe Kritik der Kirchen= und Zivilgesetzgebung, 
zumal die fortgesetzte Verkennung der wirklichen 
Lage der Kirche, die Proklamierung absoluter 
Religions= und Kultusfreiheit sowie Preß- und 
Gewissensfreiheit als deren „unabweisbarer Kon- 
seguenz“, dazu die Forderung der Trennung von 
Kirche und Staat mit allen ihren Folgen (Preis- 
gebung des Konkordates, der Immunität des 
Klerus, Verzicht auf das Kultusbudget) wurden 
als katholisch im Namen der Kirche und des Volkes 
trotz der sich mehrenden Warnungen unentwegt 
hingestellt als die einzig mögliche Lösung der reli- 
giösen Frage. Weniger die Einsicht in die Un- 
haltbarkeit dieser Stellung als der Widerspruch 
aus seiner nächsten Umgebung und das bevor- 
stehende Einschreiten der kirchlichen Behörden be- 
wogen den „Meister“, unter dem 13. Nov. 1831 
die Ausgabe des Avenir für suspendiert zu er- 
klären mit Berufung auf den an den Papst ge- 
richteten Appell zur Entscheidung zwischen ihm 
und seinen Gegnern. 
Trotz der Warnung Lacordaires, der klar er- 
kannt hatte, daß es sich bei Lamennais' Charakter- 
anlage jetzt uur um einen Kampf gegen Rom, 
nicht um eine besonnenere, mehr Würde und kirch- 
lichen Sinn zeigende Wiederaufnahme des unter- 
brochenen Werkes handeln werde, blieb Lamennais 
bei seiner Romfahrt in Begleitung von Lacordaire 
und Montalembert in der Illusion befangen, den 
Papst für seine Ideen einer Allianz zwischen 
Katholizismus und Demokratie, d. h. für die 
liberal-revolutionären Ideen von 1830 gewinnen 
zu können. Für die zuwartende, schonende und 
äußerst rücksichtsvolle Haltung der römischen Kurie 
zeigte er kein Verständnis, als er durch eine Recht- 
fertigungsschrift, dann bei einer nur bedingungs- 
weise zugestandenen Audienz Gregors XVI., end- 
lich (auf der Rückreise beim Internuntius zu 
Florenz) durch die Drohung des Wiedererscheinens 
des Avenir den Spruch des Papstes geradezu 
provozierte. In München traf ihn die abweisende 
Antwort, die Enzyklika Mirari vos (15. Aug. 
d. J.). Auf ernsteres Zureden seiner Freunde gab 
er seine Unterwerfung zugleich mit der Ankündi- 
gung der Auflösung des Avenir und der Agence 
générale bekannt. Es war ein Akt der offi- 
ziellen Anerkennung der Autorität durch freiwil- 
liges Schweigen, kein Akt innerer Unterwerfung. 
18 volle Monate schwankte er, seiner leidenschaft- 
lichen Heftigkeit gegen die Entscheidung Roms 
immer wieder nachgebend, zweimal (4. Aug. und 
5. Nov. 1833) unter Wahrung seiner Denkweise 
die Zustimmung zur Enzyklika erneuernd; unter 
dem 11. Dez. d. J. erklärte er seine rückhaltlose 
Unterwerfung, aber am 1. Jan. 1834 schrieb er 
an Montalembert: er wolle Frieden um jeden 
Preis, „selbst um die Erklärung, daß der Papst 
Gott ist, der große Gott des Himmels und der 
Erde, und daß er angebetet werde, er allein“.
	        
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