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Kirche, der Bedürfnisse seiner Zeit und Um-
gebung, seine klassische Diktion, seine Aufsehen er-
regenden Proteste gegen die Angriffe auf den
Apostolischen Stuhl, seine großen Reden auf den
drei ersten Provinzialsynoden in Westminster, sein
offener Brief an den Geheimen Rat Cardwell über
Garibaldis Besuch in England, das Vertrauen
und die Auszeichnungen Kardinal Wisemans
(1857 Ernennung zum Dompropst) und Pius'IX.
(Ernennung zum Protonotar) — alles das ließ
seine Bedeutung in immer hellerem Lichte er-
strahlen, änderte aber nicht das mindeste an seinem
aszetischen, zurückgezogenen, nur den Studien,
den Werken der Seelsorge und der Nächstenliebe
dienenden Leben, auch nichts an seinen großen, im
engsten Zusammenleben mit der katholischen Be-
völkerung in harter Arbeit und freiwilliger Armut
geläuterten Idealen. Dazu waren ihm als Ver-
trauensmann Wisemans die heute kaum glaub-
lichen Schwierigkeiten bekannt geworden, womit
die Katholiken in ihrer seit der Emanzipation
(1829) veränderten Lage zu kämpfen hatten
und die auch mit der Wiederherstellung der katho-
lischen Hierarchie (24. Sept. 1851) nicht beseitigt!
waren und denen selbst eine Kraft wie die Wise-
mans zu erliegen drohte. „Heute, wo die Kirche
in das öffentliche, in das private Leben, in den
Gesichtskreis des englischen Volkes getreten ist",
wünschte Manning (17. Juni 1859) sich mit der
innersten Sehnsucht „ein neues Geschlecht von
Lehrern, Gewissensleitern und Gefährten“. Das
Zusammenleben der Katholiken mit allen Klassen
der englischen Bevölkerung, die erhöhte Bedeutung
der Kirche für England und sein weltumspannen-
des Kolonialreich, die Notwendigkeit eines inten-
siveren Kirchen= und Glaubenslebens, die Be-
festigung des Ansehens der Kirche im ständigen
Verkehr mit den Behörden des Zivil-, Militär-
und Marinedepartements, die gebieterische Not-
wendigkeit neuer, der geistigen Kultur der regie-
renden und besitzenden Klassen Englands eben-
bürtiger Erziehungs= und Bildungsanstalten,
namentlich die Heranbildung eines ebenso frommen
wie durch seine geistige und sittliche Uberlegenheit
den großen Aufgaben der Kirche und der Zeit ge-
Manning.
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gaben, als deren Ziel ihm die Erhebung der
Kirche zur vollen Ebenbürtigkeit im öffentlichen
Leben Englands durch die Entfaltung ihrer gött-
lichen Macht auf allen Gebieten des kulturellen
und sozialen Lebens vorschwebte, so wie er es in
den Schriften „über die zeitliche Mission des Hei-
ligen Geistes“ und über „England und Christen-
tum“ (1866 und 1868) darlegte. Sein epoche-
machendes Wirken für die Erhöhung und Vertei-
digung des Apostolischen Stuhles vor, während
und nach dem Vatikanischen Konzil bis zur Er-
hebung zum Kardinalate durch Pius IX. (15. März
1875), seine Bemühungen um die Reglung der
Beziehungen zwischen Welt- und Ordensklerus
(Bulle Romanos Pontifices vom 7. Mai 1881),
seine Stellungnahme gegen die Vergewaltigung
der Kirche im deutschen Kulturkampfe, gegen die
Wiederholung des Versuches in England (durch
Gladstone) verringerte in nichts sein starkmütiges,
ununterbrochenes und erfolgreiches Bemühen um
den Fortschritt des Katholizismus in England
selbst, namentlich durch Vermehrung (von 215
auf zuletzt 350) und sorgfältigere Ausbildung des
Klerus nach den Dekreten der englischen Provin-
zialkonzilien, deren unübertrefflicher Kommentar
sein Buch über „das ewige Priestertum“ ist, durch
Vermehrung der Waisenhäuser (von 2 auf 9), der
Industrieschulen (3) und Armenschulen mit katho-
lischer Erziehung (2400 Kinder) zur Rettung der
katholischen Kinder aus den Workhouses (2253
Kinder), durch Errichtung des katholischen Ele-
mentarschulwesens (1865: 11 145 Kinder, zuletzt
22580), durch Schöpfung katholischer Normal-
schulen, eines Diözesanseminars, einer Academia
ecclesiastica für Laien und Geistliche, durch den
(allerdings gescheiterten) Versuch der Errichtung
eines katholischen Universitätskollegs in Ken-
sington.
In engster Verbindung mit dieser bischöflichen
kirchlichen Tätigkeit stand ein selten großes pri-
vates und öffentliches charitatives Wirken,
vorab der lebenslange Kampf gegen den Alkoholis-
mus. In diesem Kampf, den er in Lavington
schon begonnen hatie, verzehrte er seine besten
geistigen wie körperlichen Kräfte. Als Propst von
wachsenen Klerus, die unerläßliche Hebung der
die große Mehrzahl der Katholiken bildenden
Armen der arbeitenden Klassen, zumal der Iren
— das waren die Aufgaben, an deren Lösung
Manning fortan seine innerste Lebens= und Ar-
beitskraft setzte, zunächst in der von ihm 1856 ge-
stifteten Priesterkongregation der „Oblaten vom
hl. Karl Borromäus“, deren Niederlassung in
Bayswater (London W.) unter Manning als
Oberem der bewunderte Mittelpunkt seiner großen
kirchlichen und sozialen Tätigkeit wurde bis zum
30. April 1865, wo Pius IX. Manning zum
Erzbischof von Westminster erhob.
Vom Tage seiner Konsekration (8. Juni 1865)
galt sein bischöfliches Arbeiten nur noch
der immer vollkommeneren Erfüllung dieser Auf-
Westminster wurde er Gründer, Leiter, Agitator,
Hauptredner der Roman catholic total absti-
nence league of the Cross; er starb helden-
mütig als strenger Teetotaler in der gänzlichen
Abstinenz, beteuernd, ohne dieses Beispiel würde
er nicht wagen, vor Gott zu erscheinen. Die großen
Jahresfeste der Kreuzliga in Hyde-Park oder
Sydenham waren in ganz London betannt und
populär; Hunderttausende erschienen bei der Jahr
um Jahr von ihm selbst abgehaltenen Heerschau
und erneuerten vor ihm den Schwur der Enthalt-
samkeit; der Kern derselben, „die Garde des Kar-
dinals“, 25.000 Iren, hielten bei seinem Begräb-
nisse in Kensal Green die Ehrenwache. Die
qgleichen Beweggründe leiteten seine 1878 be-
ginnende schriftstellerische Tätigkeit: die Kritik der