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der er als einer ihrer Vizepräsidenten angehörte.
Er sprach sich immer und immer wieder für die
Entwaffnung der zivilisierten Nationen aus, gegen
den Militarismus als eine der unheilvollsten
Wunden der heutigen Gesellschaft. Er bestand
mit ungebeugter Energie auf der Forderung der
zeitlichen Gewalt für den Papst als des von der
Vorsehung gewollten Mittels, um für alle Völker
als Stellvertreter Christi in aller Unabhängigkeit
hinsichtlich ihrer höchsten sittlich-religiösen Inter-
essen seine Mission erfüllen zu können. Als letztes
und wichtigstes Mittel dazu verlangt er die engste
Einheit zwischen Kirche und Volk, d. i. eine unter
Mitwirkung aller Sozialstände, insbesondere der
leitenden und regierenden Klassen, in Verbindung
mit der Kirche zum Selbstschutz der Gesellschaft
zu schaffende Volksorganisation, in welcher er
die allein ausreichende, innere und vollständige
Überwindung des nationalen und internatio-
nalen Sozialismus erkannte, eine Idee, welcher
fast zehn Jahre nach seinem Tode Leo XIII.
in der Enzyklika Graves de communi (18. Ja-
nuar 1901) einen so vollendeten Ausdruck geben
sollte.
Man sieht, es ist ein vollständiges, in Anleh-
nung an die bestehenden Zustände und mit den
Mitteln der modernen Gesellschaft durchzuführen-
des Sozialprogramm im Geiste dessen, was
man in England „praktische Politik“ nennt. Ist
es zu verwirklichen ? So sehr wir die Grundidee
Mannings, die Rettung der modernen Gesellschaft
durch die Erneuerung der christlichen Volksorgani-
sation, zumal durch die entschlossenen Bemühungen
der Kirche nach dem Vorgange Leos XIII. für
richtig halten, so sehr möchten wir vor aller Ex-
klusivität in der Zustimmung zu derselben warnen.
Alle Sozialreform hat von den bestehenden Sozial-
zuständen auszugehen, und hier zeigen sich lokale,
nationale, kirchliche, staatliche Verschiedenheiten
und Eigenheiten so tiefgreifender Art, daß ihre
Nichtbeachtung dem Scheitern der Reform gleich-
zuachten ist. Die soziale Lage in England, wie
sie Manning steis vorschwebte, ist eine von den
kontinentalen im allgemeinen und in den natio-
nalen Tendenzen doppelt verschiedene. In Eng-
land stehen die Grundlinien der großen Sozial-
verfassung der katholischen Jahrhunderte auch in
der Organisation der Volksklassen noch aufrecht,
so daß, wenn England zum Katholizismus zurück-
träte, in den wesentlichen Grundlagen dieser Ver-
fassung keine Anderung nötig wäre, um den Volks-
klassen ihre wahre Stellung und Bedeutung vollauf
zu sichern. Anders ist es in den Kontinental=
staaten, wo die liberal-rationalistische und sozia-
listische Demokratie den Klassenkampf gegen die
höheren und mittleren Klassen organisiert hat;
hier sind die Grundfaktoren der Sozialreform in
historischer, lokaler, nationaler und wirtschaft-
licher Entwicklung und Lage so verschieden, anders
geartet, daß bei strengem Festhalten an der hier-
archischen Gliederung der Gesellschaft auf ganz
Manning.
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andere, verschiedene Lösungen hingearbeitet wer-
den muß.
Das Urteil über Mannings Arbeiten und
über seine Person ist bald nach seinem Tode,
namentlich durch die Biographie Purcells (s. unten
Literatur) zeitweilig getrübt worden. Weder ist
seinen Sozialbestrebungen die Anklage auf So-
zialismus bzw. Liberalismus, ja auf Fälschung und
Entstellung kirchlicher Lehren und Anschauungen,
noch der Hinweis auf Ehrgeiz, Herrschsucht, rück-
sichtslose Mißachtung fremder Interessen erspart
geblieben. Daß diejenigen, welche in dem alten
englischen Katholizismus in seiner Isolierung und
Absperrung ein Ideal sehen, Manning nicht ver-
standen, ist ebenso auffällig als die Verschiedenheit
seiner mehr praktischen Geistes= und Lebensrichtung
von der Newmanschen vorwiegend literarischen in
seiner Vorliebe für die höheren Gesellschaftsklassen
und deren Gewinnung. Aber sind letztere das eng-
lische Volk, erstere die Vertreter der Kirche im
neuen England? Manning war ganz und gar
ein Mann der Kirche, einer ihrer größten Ver-
teidiger der Neuzeit, aber er war ebenso ein Mann
seiner Zeit und seines Jahrhunderts. Letztere
nahm er, wie er sie fand, mit ihren Fehlern, ihren
Kulturfortschritten, ihren Hilfsquellen, Institu-
tionen, ihrem gegen die Kirche freiheitsfeindlichen
Gebaren; er liebte die Presse, die Journalistik, die
Schule, wissenschaftliche Bildung jeder Art; er war
einer der gefeiertsten Publizisten, auf den die Ge-
samtpresse stolz war; er war der loyalste Eng-
länder — keiner wagte dagegen je ein ernstes
Wort —, und doch hat keiner seinem Volke weniger
die bittersten Wahrheiten über die Fehler und Ver-
irrungen des Nationalcharakters (Selbstüber-
hebung und egoistische Utilitätspolitik) erspart.
Er huldigte dem Humanitarismus, einem Kosmo-
politismus berechtigter, christlicher Art; bis an
sein Ende war er in England der ausgesprochene
Vertreter der internationalen Freiheits= und Frie-
densbestrebungen. Alles das beruhte bei ihm auf
dem feinsten und tiefsten Verständnis für die
christliche Sozialbewegung wie nicht minder des
Sozialismus, dessen Uberwindung ihm nur mög-
lich schien durch die Einigung aller Grundkräfte
der Ordnung unter der Führung der Kirche nicht
nur auf dem Wege hingebender Liebe, sondern
auch der ausgleichenden Gerechtigkeit. In der
irischen Frage sah er nicht bloß eine politische,
sondern eine wichtige soziale Frage; er hielt un-
beugsam fest an der Union, aber an einer wirk-
lichen, gleiches Recht für alle bietenden Union, die
er mit hoher, seltener staatsmännischer Kunst stets
erläuterte, wie einer, der an Liebe für die Insti-
tutionen seines Vaterlandes nie sich übertreffen
lassen will. Gegen die Angriffe auf Manning
bleibt das Wort der Times am Abend seines
Todes bestehen: „Kein Priester seit den Tagen
der Reformation hat einen so tiefgreifenden Ein-
fluß auf das englische Leben ausgeübt“, und
das andere Wort des Standard: „Mannings