Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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der er als einer ihrer Vizepräsidenten angehörte. 
Er sprach sich immer und immer wieder für die 
Entwaffnung der zivilisierten Nationen aus, gegen 
den Militarismus als eine der unheilvollsten 
Wunden der heutigen Gesellschaft. Er bestand 
mit ungebeugter Energie auf der Forderung der 
zeitlichen Gewalt für den Papst als des von der 
Vorsehung gewollten Mittels, um für alle Völker 
als Stellvertreter Christi in aller Unabhängigkeit 
hinsichtlich ihrer höchsten sittlich-religiösen Inter- 
essen seine Mission erfüllen zu können. Als letztes 
und wichtigstes Mittel dazu verlangt er die engste 
Einheit zwischen Kirche und Volk, d. i. eine unter 
Mitwirkung aller Sozialstände, insbesondere der 
leitenden und regierenden Klassen, in Verbindung 
mit der Kirche zum Selbstschutz der Gesellschaft 
zu schaffende Volksorganisation, in welcher er 
die allein ausreichende, innere und vollständige 
Überwindung des nationalen und internatio- 
nalen Sozialismus erkannte, eine Idee, welcher 
fast zehn Jahre nach seinem Tode Leo XIII. 
in der Enzyklika Graves de communi (18. Ja- 
nuar 1901) einen so vollendeten Ausdruck geben 
sollte. 
Man sieht, es ist ein vollständiges, in Anleh- 
nung an die bestehenden Zustände und mit den 
Mitteln der modernen Gesellschaft durchzuführen- 
des Sozialprogramm im Geiste dessen, was 
man in England „praktische Politik“ nennt. Ist 
es zu verwirklichen ? So sehr wir die Grundidee 
Mannings, die Rettung der modernen Gesellschaft 
durch die Erneuerung der christlichen Volksorgani- 
sation, zumal durch die entschlossenen Bemühungen 
der Kirche nach dem Vorgange Leos XIII. für 
richtig halten, so sehr möchten wir vor aller Ex- 
klusivität in der Zustimmung zu derselben warnen. 
Alle Sozialreform hat von den bestehenden Sozial- 
zuständen auszugehen, und hier zeigen sich lokale, 
nationale, kirchliche, staatliche Verschiedenheiten 
und Eigenheiten so tiefgreifender Art, daß ihre 
Nichtbeachtung dem Scheitern der Reform gleich- 
zuachten ist. Die soziale Lage in England, wie 
sie Manning steis vorschwebte, ist eine von den 
kontinentalen im allgemeinen und in den natio- 
nalen Tendenzen doppelt verschiedene. In Eng- 
land stehen die Grundlinien der großen Sozial- 
verfassung der katholischen Jahrhunderte auch in 
der Organisation der Volksklassen noch aufrecht, 
so daß, wenn England zum Katholizismus zurück- 
träte, in den wesentlichen Grundlagen dieser Ver- 
fassung keine Anderung nötig wäre, um den Volks- 
klassen ihre wahre Stellung und Bedeutung vollauf 
zu sichern. Anders ist es in den Kontinental= 
staaten, wo die liberal-rationalistische und sozia- 
listische Demokratie den Klassenkampf gegen die 
höheren und mittleren Klassen organisiert hat; 
hier sind die Grundfaktoren der Sozialreform in 
historischer, lokaler, nationaler und wirtschaft- 
licher Entwicklung und Lage so verschieden, anders 
geartet, daß bei strengem Festhalten an der hier- 
archischen Gliederung der Gesellschaft auf ganz 
Manning. 
  
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andere, verschiedene Lösungen hingearbeitet wer- 
den muß. 
Das Urteil über Mannings Arbeiten und 
über seine Person ist bald nach seinem Tode, 
namentlich durch die Biographie Purcells (s. unten 
Literatur) zeitweilig getrübt worden. Weder ist 
seinen Sozialbestrebungen die Anklage auf So- 
zialismus bzw. Liberalismus, ja auf Fälschung und 
Entstellung kirchlicher Lehren und Anschauungen, 
noch der Hinweis auf Ehrgeiz, Herrschsucht, rück- 
sichtslose Mißachtung fremder Interessen erspart 
geblieben. Daß diejenigen, welche in dem alten 
englischen Katholizismus in seiner Isolierung und 
Absperrung ein Ideal sehen, Manning nicht ver- 
standen, ist ebenso auffällig als die Verschiedenheit 
seiner mehr praktischen Geistes= und Lebensrichtung 
von der Newmanschen vorwiegend literarischen in 
seiner Vorliebe für die höheren Gesellschaftsklassen 
und deren Gewinnung. Aber sind letztere das eng- 
lische Volk, erstere die Vertreter der Kirche im 
neuen England? Manning war ganz und gar 
ein Mann der Kirche, einer ihrer größten Ver- 
teidiger der Neuzeit, aber er war ebenso ein Mann 
seiner Zeit und seines Jahrhunderts. Letztere 
nahm er, wie er sie fand, mit ihren Fehlern, ihren 
Kulturfortschritten, ihren Hilfsquellen, Institu- 
tionen, ihrem gegen die Kirche freiheitsfeindlichen 
Gebaren; er liebte die Presse, die Journalistik, die 
Schule, wissenschaftliche Bildung jeder Art; er war 
einer der gefeiertsten Publizisten, auf den die Ge- 
samtpresse stolz war; er war der loyalste Eng- 
länder — keiner wagte dagegen je ein ernstes 
Wort —, und doch hat keiner seinem Volke weniger 
die bittersten Wahrheiten über die Fehler und Ver- 
irrungen des Nationalcharakters (Selbstüber- 
hebung und egoistische Utilitätspolitik) erspart. 
Er huldigte dem Humanitarismus, einem Kosmo- 
politismus berechtigter, christlicher Art; bis an 
sein Ende war er in England der ausgesprochene 
Vertreter der internationalen Freiheits= und Frie- 
densbestrebungen. Alles das beruhte bei ihm auf 
dem feinsten und tiefsten Verständnis für die 
christliche Sozialbewegung wie nicht minder des 
Sozialismus, dessen Uberwindung ihm nur mög- 
lich schien durch die Einigung aller Grundkräfte 
der Ordnung unter der Führung der Kirche nicht 
nur auf dem Wege hingebender Liebe, sondern 
auch der ausgleichenden Gerechtigkeit. In der 
irischen Frage sah er nicht bloß eine politische, 
sondern eine wichtige soziale Frage; er hielt un- 
beugsam fest an der Union, aber an einer wirk- 
lichen, gleiches Recht für alle bietenden Union, die 
er mit hoher, seltener staatsmännischer Kunst stets 
erläuterte, wie einer, der an Liebe für die Insti- 
tutionen seines Vaterlandes nie sich übertreffen 
lassen will. Gegen die Angriffe auf Manning 
bleibt das Wort der Times am Abend seines 
Todes bestehen: „Kein Priester seit den Tagen 
der Reformation hat einen so tiefgreifenden Ein- 
fluß auf das englische Leben ausgeübt“, und 
das andere Wort des Standard: „Mannings 
 
	        
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