Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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da sie doch ein Übel ist, was ist ihr Wesen, was 
ihr Zweck? 
3. Dieses Problem zu lösen, das im allgemeinen 
ebenfalls dem Gebiet der Kriminalpolitik angehört, 
ist die besondere Aufgabe der sog. Strafrechts- 
theorien. Es ist von jeher der Gegenstand eifrig- 
ster Spekulation gewesen, ohne daß jedoch bis heute 
trotz — oder vielleicht auch wegen? — allen auf- 
gewendeten Scharfsinns ein gesichertes Gesamt- 
ergebnis zu verzeichnen wäre; im Gegenteil, es 
scheint ein solches in weiterer Ferne zu liegen als je. 
a) Schon in der griechischen Philosophie 
sind die wesentlichen Gedanken zutage getreten, die 
  
den Kernpunkt der in der neueren Zeit ausgebauten 
Theorien bilden. Als älteste derartige Ansicht über 
das Wesen der Strafe ist die des Pythagoras 
und seiner Schule bekundet, die dieses Wesen in 
der gerechten Vergeltung sieht und sich damit auf 
den Boden der griechischen Volksanschauung stellt, 
wie sie sich durchgängig in der Dichtung kund- 
gibt, nach der dem Verbrechen die Strafe als Ver- 
geltung des Bösen folgt. Andere sehen in der 
Strafe unmittelbar ein Mittel, den Zorn der 
Götter über das begangene Verbrechen zu fühnen. 
Plato sodann geht davon aus, daß wie im Welt- 
all die göttliche Vernunft eine vollkommene Har- 
monie geschaffen hat, so im Menschen die mensch- 
liche und im Staat, der ein lebendiger Organismus 
ist, die im Gesetz verkörperte Vernunft der Ge- 
meinschaft. Die Begehung eines Verbrechens zeigt, 
daß die Vernunft im Menschen die Herrschaft ver- 
loren hat; sie zeigt, daß der Täter krank ist und, 
da mit der Tat auch die Mitbürger betroffen wer- 
den, daß auch der Staat, das Gemeinwesen krank 
ist. Beide bedürfen der Heilung, denn es ist un- 
vernünftig, eine Strafe auf etwas Vergangenes 
zu richten, das sich doch nicht mehr ungeschehen 
machen läßt. Zunächst ist Zureden, Belehrung am 
Platz, eventuell erst Strafe, bei Unheilbaren Rei- 
nigung des Staats vom Verbrecher durch Landes- 
verweisung oder Todesstrafe. Zweck der Strafe 
ist also Besserung. Die Bestrafung übt außer- 
dem auchaabschreckende Wirkung auf die Mitbürger; 
doch ist diese nicht Grund und Zweck der Strafe, 
sondern nur eine von selbst sich einfindende Be- 
gleiterscheinung. Des Plato großer Schüler Ari- 
stoteles wendet sich zunächst gegen die Strafe als 
Vergeltung, Talion, im Sinn der Ppythagoreer 
und geht dann selbst von zwei Gesichtspunkten aus. 
Einmal ist ihm die Gerechtigkeit die Seele der 
staatlichen Ordnung. Sie stellt, sei es als aus- 
teilende (distributive), sei es als ausgleichende 
(kommutative) Gerechtigkeit, die Gleichheit der 
Bürger her. Aufgabe der letzteren ist es, den durch 
eine Gesetzesübertretung verursachten Schaden durch 
die Strafe auszugleichen. Sodann aber ist ihm, 
wie Plato, die Strafe ein Mittel zur Heilung des 
Verbrechers, das gegen ihn, nicht, wie bereits ge- 
sagt, als Vergeltung, sondern zu dem Zweck an- 
gewendet wird, um den Ubeltäter zum Guten an- 
zuhalten. Deswegen wird die Strafe, im Gegensatz 
Strafe usw. 
  
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zur Rache, die im Interesse des Nächers stattfindet, 
im Interesse des Bestraften angewendet. Zugleich 
ist sie ein Mittel zur Abschreckung von der Ver- 
brechensbegehung, und zwar sowohl für die ein- 
zelnen als auch für die Gesamtheit, indem statt 
der Lust zum Bösen durch das Gesetz mit der zu 
erwartenden Strafe eine entsprechende Unlust er- 
weckt wird. — Die römischen Philosophen und 
Juristen sprachen sich nur gelegentlich über die 
Frage aus. Für Cicero ist die Strafe Besserungs-, 
aber noch mehr Abschreckungsmittel. Seneca, der 
sich mit Plato zu dem Grundsatz bekennt, daß es 
unvernünftig sei, Vergangenes zu strafen (nemo 
prudens punit, quia peccatum est, sed ne pec- 
cetur), stellt dagegen den Besserungszweck vorauf; 
nach ihm ist die Strafe Wohltat, dergestalt, daß 
selbst die Todesstrafe als eine solche für den im 
äußersten Fall damit zu Bestrafenden zu betrachten 
ist. Die Mehrzahl der Pandektenjuristen endlich 
sieht in der Strafe ein Abschreckungsmittel, einige 
auch ein Besserungs= und wieder andere ein Prä- 
ventionsmittel; nur wenigen gilt sie als Vergel- 
tung. — Die leitende Idee der Philosophie des 
Mittelalters steht, wie nicht anders zu erwarten, 
in vollster Ubereinstimmung mit den Grundan- 
schauungen der herrschend gewordenen Kirche. In 
deren Sinn bezwecken alle Strafen Besserung des 
Fehlenden, Zurückführung des Irrenden zu der 
Kirche und zu Gott. Daher konnten denn nach 
der Ansicht der scholastischen Philosophie, nament- 
lich der des hl. Thomas von Aquin, auch die welt- 
lichen Strafen in der Hauptsache nur poenae 
medicinales sein, die den Zweck hatten, den Ver- 
brecher zu heilen. Und auch da, wo die staatliche 
Strafe in ihrer Härte über diesen Zweck hinaus- 
zugehen schien, entsprach sie doch der göttlichen 
Gerechtigkeit, indem sie auf den göttlicher Willens- 
meinung entsprechenden Staat als ihren Ursprung 
zurückzuführen ist. Es muß aber hervorgehoben 
werden, daß sich diese Philosophie nur sehr wenig 
und andeutungsweise mit der Strafe und ihrem 
Zweck beschäftigt hat. 
b) Erst geraume Zeit nach Beginn der Re- 
formationsbewegung fangen Philosophie und 
Rechtswissenschaft wieder an, die Frage eingehen- 
der zu erörtern; seitdem beschäftigen sie sich damit 
aber auch unausgesetzt und mit großer Lebhaftig- 
keit. Hugo Grotius (1583/1645) war der erste, 
der sich wieder mit ihr befaßte, zugleich auch der 
erste, der eine vollständige Strafrechtstheorie auf- 
stellte. Seitdem aber entstanden Theorien in großer 
Zahl. Sie lassen sich zum Teil nur schwer einander 
gegenüberstellen, „da“, wie Feuerbach-Mittermaier 
bemerkt, „die Theorien ineinander fließen und die 
Begründer einer Theorie gewöhnlich selbst, die 
Gefahr der konsequenten Durchführung ihres auf- 
gestellten Prinzips erkennend, durch Hereinziehen 
eines andern Prinzips die Einwendungen zu be- 
seitigen suchen"“. Das Werk der eben genannten 
Schriftsteller zählt unter verschiedenen Sammel- 
bezeichnungen 22, Hepp desgleichen 26, v. Holtzen- 
9 *
	        
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