Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Beschuldigten bei dem Verfahren verlangt, so doch 
dessen Anwesenheit, die dann auch durch Vor- 
führung, Verhaftung, Steckbrief erzwungen bzw. 
durch vorläufige Festnahme sichergestellt werden 
kann. Allerdings müssen, damit er in Unter- 
suchungshaft genommenwerden könne, dringende 
Verdachtsgründe gegen ihn bestehen und entweder 
er der Flucht verdächtig sein oder Tatsachen vor- 
liegen, welche Kollusion befürchten lassen. Handelt 
es sich um ein Verbrechen, so bedarf der Flucht- 
verdacht keiner besondern Begründung. Durch 
Sicherheitsleistung kann er den Fluchtverdacht be- 
seitigen. Anderseits hat der Angeklagte ein Recht 
auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung der- 
gestalt, daß gegen einen Abwesenden nur in 
Ausnahmefällen, nämlich nur, wenn die Tat mit 
Geldstrafe, Haft oder Einziehung bedroht ist, das 
Verfahren durch Urteil zum Abschluß gebracht 
werden kann, es sei denn, daß er auf seinen An- 
trag von dem Erscheinen in der Hauptverhandlung 
entbunden worden ist, was wiederum nur in 
weniger schweren Fällen statthaft ist. — Nur in 
diesen Fällen der Verhandlung in seiner Abwesen- 
heit kann sich der Angeklagte auch vertreten 
lassen. Verschieden von dieser Vertretung ist das 
Auftreten der gesetzlichen Vertreter oder Beistände 
neben den Angeschuldigten, denen selbständige 
Befugnisse auch gegen den Vertretenen zustehen. 
C. Die Grundmaximen des Verfahrens. 
1. Anklage und Inquisitionsprinzip. 
Der kanonische Prozeß hatte zum erstenmal, wie 
oben ausgeführt ist, das Prinzip zur Anwendung 
gebracht, daß die materielle Wahrheit festzustellen 
sei. Es war von dem staatsmännischen und staats- 
rechtlichen Gedanken von unanfechtbarer Richtig- 
keit und unvergänglichem Wert getragen, daß im 
öffentlichen Interesse kein Schuldiger der Strafe 
entgehen, kein Unschuldiger von ihr getroffen wer- 
den dürfe. Daß diese dem Strafprozeß gestellte 
Aufgabe in verschiedener Weise gelöst werden kann, 
bedarf keiner Erörterung. Der kanonisch-ger- 
manische Strafprozeß ist dabei den Weg des In- 
quisitionsverfahrens gegangen, in welchem zur 
Verfolgung einer strafbaren Handlung der Richter 
von Amts wegen einschreitet und das Verfahren 
zu Ende führt. Die daraus sich ergebende Ver- 
einigung des Anklägers, des Verteidigers und des 
Urteilers in der einen Person des Richters mag den 
heutigen Anschauungen als Unnatur erscheinen; im 
Hinblick darauf aber, wie sie mit dem kanonischen 
Prozeß (vgl. oben I. 4. Abs. 2) ohne Künstelei 
und böswillige Erfindung aus den Zeitverhält- 
nissen herausgewachsen ist, noch mehr aber im 
Hinblick auf ihre Folgerichtigkeit wird man ihr 
die gerechte Würdigung nicht versagen können. 
Steht es fest, daß es im eigensten Interesse des 
Staats und der Gesellschaft gelegen ist, den wirk- 
lichen Verbrecher und nur ihn zu strafen, dann 
kann sich der Staat die Durchführung dieses öffent- 
lichen Interesses nicht aus der Hand nehmen, dann 
darf er sie weder durch die Tätigkeit noch die 
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl. 
  
Strafprozeß. 
  
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Passivität von Privaten durchkreuzen lassen. Da- 
mit rechtfertigt sich das Vorgehen des kanonischen 
Prozesses im Prinzip durchaus — so bedauerlich 
auch die späteren Zutaten bleiben mögen, die 
aber auch, und das muß betont werden, das 
Prinzip als solches vollständig unberührt lassen. 
Die beste Rechtfertigung erhält jene Zeit jedoch 
dadurch, daß unser moderner Strafprozeß nach 
Beseitigung jener Zutaten und anderer Mängel 
im wesentlichen noch auf demselben Grundgedanken 
beruht. Allerdings kann heute ein Strafprozeß 
nicht in Gang kommen, ohne daß Anklage bei Ge- 
richt erhoben wird, und insofern ist unser Straf- 
prozeß Anklageprozeß; aber darüber hinaus ist die 
Aufgabe des Richters die alte geblieben: er hat 
im Sinn des alten Inquisitionsprinzips materielle 
Wahrheit zu erforschen und darf sich in Erledigung 
dieser Aufgabe durch die Tätigkeit weder des An- 
klägers noch der Verteidigung beirren lassen. Unser 
heutiger Strasprozeß wird von der Anklageform 
und dem Ingquisitionsprinzip beherrscht. Darum 
sind der Fortschritte unseres heutigen Verfahrens 
gegenüber dem gemeinrechtlichen doch noch außer- 
ordentlich zahlreiche und wertvolle. 
Unser Strafprozeß hat von der richterlichen 
Tätigkeit der früheren Zeit zunächst die Straf- 
verfolgung getrennt und im Prinzip in die Hände 
einer besondern Behörde, der Staatsanwaltschaft, 
legt. Von dem Vorgehen der letzteren, der Er- 
hebung der öffentlichen Klage, ist die Eröffnung 
einer gerichtlichen Untersuchung bedingt (Str.= 
P.O. 8§ 151). Sofort aber zeigt sich, wie sehr 
unser Verfahren noch von dem Inquisitionsprinzip 
beherrscht wird, indem das Gericht für berechtigt 
und verpflichtet erklärt wird, auf die Klage hin 
eine selbständige Tätigkeit zu entfalten, bei der 
es in Anwendung des Strafgesetzes an die ge- 
stellten Anträge nicht gebunden ist; und die auch 
nicht mehr gestört und gehindert werden kann, da 
die Staatsanwaltschaft nach Eröffnung der ge- 
richtlichen Untersuchung die Klage nicht mehr 
zurückzunehmen befugt ist; auch das erkennende 
Gericht steht unter diesem Grundsatz, indem es 
bzw. sein Vorsitzender berechtigt und verpflichtet 
ist, die Herbeischaffung von Beweismitteln von 
Amts wegen anzuordnen. Daß die gerichtliche 
Untersuchung und Entscheidung sich nur auf die 
in der Klage bezeichnete Tat und die in derselben 
beschuldigten Personen erstrecken darf, ist lediglich 
eine aus der Vorbedingung der gerichtlichen Tätig- 
keit logisch sich ergebende Einschränkung des In- 
quisitionsprinzips. 
Steht sonach fest, daß die gerichtliche Tätig- 
keit nur durch Erhebung der öffentlichen Klage 
in Bewegung gesetzt werden kann (Anklage- 
monopol), so erhebt sich ohne weiteres die 
Frage, inwieweit die Staatsanwaltschaft ver- 
pflichtet sein soll, strafbare Handlungen durch 
Erhebung der öffentlichen Klage zu verfolgen, 
und welches Korrektiv gegen etwaige Vernach- 
lässigung dieser Pflicht anzuwenden sei. Die Be- 
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