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Beschuldigten bei dem Verfahren verlangt, so doch
dessen Anwesenheit, die dann auch durch Vor-
führung, Verhaftung, Steckbrief erzwungen bzw.
durch vorläufige Festnahme sichergestellt werden
kann. Allerdings müssen, damit er in Unter-
suchungshaft genommenwerden könne, dringende
Verdachtsgründe gegen ihn bestehen und entweder
er der Flucht verdächtig sein oder Tatsachen vor-
liegen, welche Kollusion befürchten lassen. Handelt
es sich um ein Verbrechen, so bedarf der Flucht-
verdacht keiner besondern Begründung. Durch
Sicherheitsleistung kann er den Fluchtverdacht be-
seitigen. Anderseits hat der Angeklagte ein Recht
auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung der-
gestalt, daß gegen einen Abwesenden nur in
Ausnahmefällen, nämlich nur, wenn die Tat mit
Geldstrafe, Haft oder Einziehung bedroht ist, das
Verfahren durch Urteil zum Abschluß gebracht
werden kann, es sei denn, daß er auf seinen An-
trag von dem Erscheinen in der Hauptverhandlung
entbunden worden ist, was wiederum nur in
weniger schweren Fällen statthaft ist. — Nur in
diesen Fällen der Verhandlung in seiner Abwesen-
heit kann sich der Angeklagte auch vertreten
lassen. Verschieden von dieser Vertretung ist das
Auftreten der gesetzlichen Vertreter oder Beistände
neben den Angeschuldigten, denen selbständige
Befugnisse auch gegen den Vertretenen zustehen.
C. Die Grundmaximen des Verfahrens.
1. Anklage und Inquisitionsprinzip.
Der kanonische Prozeß hatte zum erstenmal, wie
oben ausgeführt ist, das Prinzip zur Anwendung
gebracht, daß die materielle Wahrheit festzustellen
sei. Es war von dem staatsmännischen und staats-
rechtlichen Gedanken von unanfechtbarer Richtig-
keit und unvergänglichem Wert getragen, daß im
öffentlichen Interesse kein Schuldiger der Strafe
entgehen, kein Unschuldiger von ihr getroffen wer-
den dürfe. Daß diese dem Strafprozeß gestellte
Aufgabe in verschiedener Weise gelöst werden kann,
bedarf keiner Erörterung. Der kanonisch-ger-
manische Strafprozeß ist dabei den Weg des In-
quisitionsverfahrens gegangen, in welchem zur
Verfolgung einer strafbaren Handlung der Richter
von Amts wegen einschreitet und das Verfahren
zu Ende führt. Die daraus sich ergebende Ver-
einigung des Anklägers, des Verteidigers und des
Urteilers in der einen Person des Richters mag den
heutigen Anschauungen als Unnatur erscheinen; im
Hinblick darauf aber, wie sie mit dem kanonischen
Prozeß (vgl. oben I. 4. Abs. 2) ohne Künstelei
und böswillige Erfindung aus den Zeitverhält-
nissen herausgewachsen ist, noch mehr aber im
Hinblick auf ihre Folgerichtigkeit wird man ihr
die gerechte Würdigung nicht versagen können.
Steht es fest, daß es im eigensten Interesse des
Staats und der Gesellschaft gelegen ist, den wirk-
lichen Verbrecher und nur ihn zu strafen, dann
kann sich der Staat die Durchführung dieses öffent-
lichen Interesses nicht aus der Hand nehmen, dann
darf er sie weder durch die Tätigkeit noch die
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl.
Strafprozeß.
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Passivität von Privaten durchkreuzen lassen. Da-
mit rechtfertigt sich das Vorgehen des kanonischen
Prozesses im Prinzip durchaus — so bedauerlich
auch die späteren Zutaten bleiben mögen, die
aber auch, und das muß betont werden, das
Prinzip als solches vollständig unberührt lassen.
Die beste Rechtfertigung erhält jene Zeit jedoch
dadurch, daß unser moderner Strafprozeß nach
Beseitigung jener Zutaten und anderer Mängel
im wesentlichen noch auf demselben Grundgedanken
beruht. Allerdings kann heute ein Strafprozeß
nicht in Gang kommen, ohne daß Anklage bei Ge-
richt erhoben wird, und insofern ist unser Straf-
prozeß Anklageprozeß; aber darüber hinaus ist die
Aufgabe des Richters die alte geblieben: er hat
im Sinn des alten Inquisitionsprinzips materielle
Wahrheit zu erforschen und darf sich in Erledigung
dieser Aufgabe durch die Tätigkeit weder des An-
klägers noch der Verteidigung beirren lassen. Unser
heutiger Strasprozeß wird von der Anklageform
und dem Ingquisitionsprinzip beherrscht. Darum
sind der Fortschritte unseres heutigen Verfahrens
gegenüber dem gemeinrechtlichen doch noch außer-
ordentlich zahlreiche und wertvolle.
Unser Strafprozeß hat von der richterlichen
Tätigkeit der früheren Zeit zunächst die Straf-
verfolgung getrennt und im Prinzip in die Hände
einer besondern Behörde, der Staatsanwaltschaft,
legt. Von dem Vorgehen der letzteren, der Er-
hebung der öffentlichen Klage, ist die Eröffnung
einer gerichtlichen Untersuchung bedingt (Str.=
P.O. 8§ 151). Sofort aber zeigt sich, wie sehr
unser Verfahren noch von dem Inquisitionsprinzip
beherrscht wird, indem das Gericht für berechtigt
und verpflichtet erklärt wird, auf die Klage hin
eine selbständige Tätigkeit zu entfalten, bei der
es in Anwendung des Strafgesetzes an die ge-
stellten Anträge nicht gebunden ist; und die auch
nicht mehr gestört und gehindert werden kann, da
die Staatsanwaltschaft nach Eröffnung der ge-
richtlichen Untersuchung die Klage nicht mehr
zurückzunehmen befugt ist; auch das erkennende
Gericht steht unter diesem Grundsatz, indem es
bzw. sein Vorsitzender berechtigt und verpflichtet
ist, die Herbeischaffung von Beweismitteln von
Amts wegen anzuordnen. Daß die gerichtliche
Untersuchung und Entscheidung sich nur auf die
in der Klage bezeichnete Tat und die in derselben
beschuldigten Personen erstrecken darf, ist lediglich
eine aus der Vorbedingung der gerichtlichen Tätig-
keit logisch sich ergebende Einschränkung des In-
quisitionsprinzips.
Steht sonach fest, daß die gerichtliche Tätig-
keit nur durch Erhebung der öffentlichen Klage
in Bewegung gesetzt werden kann (Anklage-
monopol), so erhebt sich ohne weiteres die
Frage, inwieweit die Staatsanwaltschaft ver-
pflichtet sein soll, strafbare Handlungen durch
Erhebung der öffentlichen Klage zu verfolgen,
und welches Korrektiv gegen etwaige Vernach-
lässigung dieser Pflicht anzuwenden sei. Die Be-
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