Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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auch die Ausbildung des Einigungswesens der 
Hauptsache nach im Anschluß an große gewerb- 
liche Organisationen und an die von diesen be- 
wirkte kollektive Arbeitsreglung (Tarifverträge). 
Der kollektive Arbeitsvertrag fordert ja natur- 
gemäfß feststehende, paritätisch gebildete Instanzen, 
welche die Vertragsbestimmungen dem Wandel 
der Konjunktur und Technik entsprechend weiter- 
bilden und größere und kleinere Streitigkeiten der 
Parteien schlichten. Eine Hauptbedingung für ein 
gedeihliches Einigungswesen werden daher immer 
starke, gut geschulte Organisationen von Unter- 
nehmern und Arbeitern sein, die sich in Tarif- 
gemeinschaften zusammenschließen. Stehen sich in 
solchen auf den Organisationen beruhenden Eini- 
gungsämtern die beiden organisierten, sich gegen- 
seitig achtenden Parteien gegenüber, so ist es selbst- 
verständlich, daß man bei ausbrechenden Streitig- 
keiten zunächst eine Verständigung sucht und einen 
Kompromiß herbeiführt. Gelingt das nicht, so 
wird ein Schiedsspruch gefällt. Für die Durch- 
führung des Schiedsspruchs bieten die Organi- 
sationen die stärkste Gewähr. Sie können dafür 
nicht bloß mit ihrer Disziplinarmacht, die sie den 
Mitgliedern gegenüber besitzen, sondern auch mit 
ihrem Vermögen haften; völlige Rechtsfähig- 
keit der Berufsvereine würde allerdings dafür 
Voraussetzung sein. Über diese zivilrechtliche Bin- 
dung der Organisationen hinaus noch einen durch 
die Staatsgewalt zu vollziehenden öffentlich-recht- 
lichen Zwang zur Durchführung von Tarif und 
Schiedsspruch einzuführen, dürfte sich jedoch all- 
gemein nicht empfehlen. In Neuseeland und den 
australischen Kolonien haben freilich die obligato- 
rischen Schiedsgerichte bezüglich der Streikver- 
hütung entschieden gute, bezüglich der industriellen 
Entwicklung bisher keine üblen Folgen gehabt. 
In andern Ländern jedoch, die wie Deutschland 
von der internationalen Konkurrenz abhängig sind, 
und deren Industrie im Fall einer staatlichen Lohn- 
regulierung deren Folgen nicht ohne weiteres auf die 
Konsumenten abwälzen könnte, würde ein staatliches 
Eingreifen vielfach schädigend auf die Industrie 
wirken müssen. Zudem würde hier der Staats- 
gewalt eine Aufgabe zugewiesen, der sie, auch bei 
durchaus sachgemäßer Zusammensetzung der Ge- 
richtshöfe, in allweg kaum gewachsen sein dürfte. 
Sie müßte „die weisesten, allwissendsten Schieds- 
gerichtshöfe besitzen, welche besser als die genial- 
sten Bankdirektoren und Kartelleiter die ganze 
Volks= und Weltwirtschaft überblickten und fähig 
wären, sie zu leiten“ (Schmoller). Auch die 
Durchführung eines Schiedsspruchs, zumal wenn 
hohe Strafen beigefügt sind, kann auf die größten 
Schwierigkeiten stoßen, wie neuerdings ein Vor- 
fall in Australien beweist. Endlich ist ein wich- 
tiges prinzipielles Bedenken nicht von der Hand 
zu weisen. Durch die Normierung der Löhne und, 
was die notwendige Folge sein würde, der Preise 
Streik usw. 
  
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rungskreise. Das privatwirtschaftliche System 
würde mehr und mehr einer Art Kollektiowirtschaft 
weichen und allmählich in ein System sich um- 
wandeln, das den Namen Staatssozialismus 
vollauf verdiente. — Dem Staat soll freilich 
nicht jegliche Kompetenz auf dem Gebiet des ge- 
werblichen Einigungswesens bestritten werden. 
Es gibt, wie früher schon hervorgehoben wurde, 
Streiks, die ihrer Natur nach unmittelbar das 
öffentliche Wohl in Frage stellen, wie Streiks im 
Verkehrsgewerbe, in der Gas= und Wasserversor- 
gung, im Kohlenbergbau usw. Für solche Fälle 
sollte der Staat, falls private Friedensinstitutionen 
fehlen, ein ständiges Einigungs- und Schiedsamt 
nach paritätischen Normen errichten, das im kriti- 
schen Moment, am besten vor Ausbruch des 
Kampfes eine rasche unparteüssche Schlichtung her- 
beiführt. Dies öffentlich-rechtliche Amt müßte 
Erscheinungs= und Verhandlungszwang anwenden 
können, zwangsweise Durchführung des Schieds- 
spruchs sollte ihm aber erst dann zugestanden 
werden, wenn nach jahrelanger Erfahrung erwiesen 
wäre, daß kein anderer Weg zum Ziel führt. Vor- 
erst sollte man es bei der moralischen Einwirkung 
des Schiedsspruchs belassen. Ja hier würde auch 
in Anbetracht des Unglücks, das der Gesamtheit 
droht und anders nicht abgewandt werden kann, 
dem Staat die Macht zustehen müssen, den 
Schiedsspruch zwangsweise durchführen zu lassen. 
Ahnliches wäre zu sagen, wenn Streiks und Aus- 
sperrung durch ihre Ausdehnung und Form eine 
Bedeutung erlangt haben, daß sie die Erwerbs- 
tätigkeit eines großen Teils der Nation, die Kon- 
kurrenzfähigkeit wichtiger Industrien ernstlich be- 
drohen. Auch hier müßte eine Staatsbehörde, 
falls andere Einrichtungen fehlen oder versagen, 
unter Zuziehung von Vertrauensmännern beider 
Parteien Verhandlungen und Schiedsverfahren 
einleiten. — Im allgemeinen werden die wirt- 
schaftlichen Kollektivstreitigkeiten, die innerhalb der 
Gesellschaft ausbrechen, am erfolgreichsten ver- 
hütet und beigelegt durch die Gesellschaft selber, 
d.h. durch die hier in Frage kommenden wirtschaft- 
lichen Berufsstände und die Einigungsfaktoren, 
die von diesen geschaffen sind. So fordert es die 
Natur der Sache, so bestätigt es die Erfahrung. 
Kommt infolge eines Ausstands die öffentliche 
Wohlfahrt ernstlich in Frage und erweisen sich zu 
ihrem Schutz die gesellschaftlichen Faktoren als 
ohnmächtig oder fehlen sie ganz, so muß der Staat 
als oberster Hüter der öffentlichen Wohlfahrt ein- 
greifen und die Einigungs= und Schiedstätigkeit 
übernehmen. 
Literatur. L. Brentano, Arbeitergilden (2 Bde, 
1871,72); derf., Auerbach u. Lotz, Arbeitseinstel- 
lungen u. Fortbildung des Arbeitsvertrags (1890); 
H. Herkner, Die Arbeiterfrage (51908); Ph. Stein, 
Über S. u. A.en (1907); E. Bernstein, Der Streik 
(1907); H. Roskoschny, Gesch, der Streiks (1890); 
M. Meyer, Statistik der S.s u. A.en (1907); H. 
erhielte der Staat einen entscheidenden Einfluß Roland-Holst, Generalstreik u. Sozialdemokratie 
auf das Wirtschaftsleben immer weiterer Bevölke= (1905); E. Georgi, Theorie u. Praxis des Ge-
	        
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