Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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All ist Gott und hat das eigentlichste Wesen 
Gottes; Gott und die Welt sind ein und dasselbe, 
daher auch der Geist und die Materie, die Not- 
wendigkeit und die Freiheit, das Wahre und das 
Falsche, das Gute und das Böse, das Gerechte 
und das Ungerechte. 2) Jede Einwirkung Gottes 
auf die Menschen und die Welt ist zu leugnen. 
3) Die menschliche Vernunft ist ohne alle Rück- 
sicht auf Gott der einzige Schiedsrichter zwischen 
wahr und falsch, gut und bös, sie ist sich selbst 
Gesetz und reicht mit ihren natürlichen Kräften hin 
für das Wohl der Menschen und Völker. 4) Alle 
Wahrheiten der Religion fließen aus der an- 
gebornen Kraft der menschlichen Vernunft; darum 
ist die Vernunft die hauptsächlichste Norm, nach 
welcher der Mensch die Erkenntnis aller Wahr- 
heiten jeglicher Art erwerben kann und soll. 5) Die 
göttliche Offenbarung ist unvollkommen und daher 
einem fortwährenden und unbegrenzten Fortschritt 
unterworfen, welcher dem Fortschreiten der mensch- 
lichen Vernunft entspricht. 6) Der christliche 
Glaube widerspricht der menschlichen Vernunft; 
die göttliche Offenbarung nützt nicht allein nichts, 
sondern sie schadet auch der Vervollkommnung des 
Menschen. 7) Die in der Heiligen Schrift dar- 
gestellten und erzählten Weissagungen und Wun- 
der sind Erfindungen von Dichtern, und die Ge- 
heimnisse deshristlichen Glaubens sind die Summe 
philosophischer Forschungen; in den Büchern beider 
Testamente sind mythische Erfindungen enthalten, 
und Jesus Christus selbst ist ein mythisches Ge- 
bilde 
§ 2. Gemäßigter Rationalismus. 
8) Da die menschliche Vernunft der Religion selbst 
gleichzustellen ist, so sind die theologischen Diszi- 
blinen ebenso zu behandeln wie die philosophischen. 
9) Alle Dogmen der christlichen Religion ohne 
Unterschied sind Gegenstand der natürlichen Wissen- 
schaft oder der Philosophie; und die bloß historisch 
gebildete menschliche Vernunft kann aus ihren 
natürlichen Kräften und Prinzipien zu der wahren 
Erkenntnis über alle, auch die verborgeneren 
Dogmen gelangen, wofern nur diese Dogmen der 
Vernunft selbst als Objekt vorgelegt worden sind. 
10) Da etwas anderes der Philosoph und etwas 
anderes die Philosophie ist, so hat jeder das Recht 
und die Pflicht, sich der Autorität, welche er selbst 
für die wahre erkannt hat, zu unterwerfen, aber 
die Philosophie selbst kann und darf sich keinerlei 
Autorität unterwerfen. 11) Die Kirche darf nicht 
nur niemals gegen die Philosophie vorgehen, son- 
dern muß auch die Irrtümer der Philosophie selbst 
dulden und es ihr überlassen, sich selbst zu ver- 
bessern. 12) Die Dekrete des Apostolischen Stuhls 
und der römischen Kongregationen hindern den 
freien Fortschritt der Wissenschaft. 13) Die Me- 
thode und die Prinzipien, nach welchen die alten 
scholastischen Lehrer die Theologie ausgebildet 
haben, entsprechen den Bedürfnissen unserer Zeit 
und dem Fortschritt der Wissenschaften ganz und 
gar nicht. 14) Die Philosophie muß ohne alle 
Syllabus. 
  
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Rücksicht auf die übernatürliche Offenbarung be- 
trieben werden. NB. Mit dem System des Ra- 
tionalismus hängen größtenteils die Irrtümer 
Anton Günthers zusammen, welche verworfen 
werden in dem Schreiben an den Kardinal-Erz- 
bischof von Köln „Eximiam tuam“ (15. Juni 
1857) und in dem Brief an den Bischof von 
Breslau „Dolore haud mediocri“ (30. April 
18600. 
§* 3. Indifferentismus und Latitu- 
dinarismus. 15) Es steht jedem Menschen 
frei, jene Religion anzunehmen und zu bekennen, 
welche einer, durch das Licht der Vernunft geleitet, 
für wahr hält. 16) Die Menschen können in der 
UÜbung jedweder Religion den Weg des ewigen 
Heiles finden und die ewige Seligkeit erlangen. 
17) Wenigstens gute Hoffnung darf man über die 
ewige Seligkeit aller jener haben, welche nicht in 
der wahren Kirche Christi leben. 18) Der Pro- 
testantismus ist nichts anderes als eine verschiedene 
Form derselben wahren christlichen Religion, in 
welcher es möglich ist, Gott ebensogut zu gefallen 
als in der katholischen Kirche. 
§* 4. Sozialismus, Kommunismus, 
geheime Gesellschaften, Bibelgesell- 
schaften, liberale Klerikervereine. Der- 
gleichen Zeitübel werden oft und in den ernstesten 
Ausdrücken verworfen in der Enzyklika „Qui pluri- 
bus“ (9. Nov. 1846), in der Allokution „QOuibus. 
duantisque" (20. April 1849), in der Enzyklika 
„Noscitis et Nobiscum“ (8. Dez. 1849), in der 
Allokution „Singulari qguadam" (9. Dez. 1854), 
in der Enzyklika „Quanto conficiamur" (10. Aug. 
1863). 
§ 5. Irrtümer über die Kirche und 
ihre Rechte. 19) Die Kirche ist keine wahre 
und vollkommene, ganz freie Gesellschaft und hat 
keine eignen und bleibenden, ihr von ihrem gött- 
lichen Stifter verliehenen Rechte, sondern es ist 
Sache der Staatsgewalt, zu bestimmen, welches 
die Rechte der Kirche und die Schranken seien, 
innerhalb deren sie diese Rechte ausüben soll. 
20) Die Kirchengewalt darf ihre Autorität nicht 
ohne Erlaubnis und Zustimmung der Staats- 
regierung ausüben. 21) Die Kirche hat nicht die 
Macht, dogmatisch zu entscheiden, daß die Religion 
der katholischen Kirche die einzig wahre Religion 
sei. 22) Die Verpflichtung, durch welche die katho- 
lischen Lehrer und Schriftsteller durchaus gebunden 
sind, ist allein auf jene Stücke beschränkt, welche 
durch das unfehlbare Urteil der Kirche als von 
allen zu glaubende Glaubensdogmen vorgelegt 
werden. 23) Die römischen Päpste und die all- 
gemeinen Konzilien haben die Grenzen ihrer Ge- 
walt überschritten, Rechte der Fürsten an sich 
gerissen (usurpierl) und auch in Festsetzung der 
Glaubens= und Sittenlehren geirrt. 24) Die 
Kirche hat nicht die Gewalt, Zwangsmittel an- 
zuwenden, noch irgend eine direkte oder indirekte 
Gewalt in zeitlichen Dingen. 25) Außer der dem 
Episkopat inhärierenden Gewalt ist ihm eine 
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