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All ist Gott und hat das eigentlichste Wesen
Gottes; Gott und die Welt sind ein und dasselbe,
daher auch der Geist und die Materie, die Not-
wendigkeit und die Freiheit, das Wahre und das
Falsche, das Gute und das Böse, das Gerechte
und das Ungerechte. 2) Jede Einwirkung Gottes
auf die Menschen und die Welt ist zu leugnen.
3) Die menschliche Vernunft ist ohne alle Rück-
sicht auf Gott der einzige Schiedsrichter zwischen
wahr und falsch, gut und bös, sie ist sich selbst
Gesetz und reicht mit ihren natürlichen Kräften hin
für das Wohl der Menschen und Völker. 4) Alle
Wahrheiten der Religion fließen aus der an-
gebornen Kraft der menschlichen Vernunft; darum
ist die Vernunft die hauptsächlichste Norm, nach
welcher der Mensch die Erkenntnis aller Wahr-
heiten jeglicher Art erwerben kann und soll. 5) Die
göttliche Offenbarung ist unvollkommen und daher
einem fortwährenden und unbegrenzten Fortschritt
unterworfen, welcher dem Fortschreiten der mensch-
lichen Vernunft entspricht. 6) Der christliche
Glaube widerspricht der menschlichen Vernunft;
die göttliche Offenbarung nützt nicht allein nichts,
sondern sie schadet auch der Vervollkommnung des
Menschen. 7) Die in der Heiligen Schrift dar-
gestellten und erzählten Weissagungen und Wun-
der sind Erfindungen von Dichtern, und die Ge-
heimnisse deshristlichen Glaubens sind die Summe
philosophischer Forschungen; in den Büchern beider
Testamente sind mythische Erfindungen enthalten,
und Jesus Christus selbst ist ein mythisches Ge-
bilde
§ 2. Gemäßigter Rationalismus.
8) Da die menschliche Vernunft der Religion selbst
gleichzustellen ist, so sind die theologischen Diszi-
blinen ebenso zu behandeln wie die philosophischen.
9) Alle Dogmen der christlichen Religion ohne
Unterschied sind Gegenstand der natürlichen Wissen-
schaft oder der Philosophie; und die bloß historisch
gebildete menschliche Vernunft kann aus ihren
natürlichen Kräften und Prinzipien zu der wahren
Erkenntnis über alle, auch die verborgeneren
Dogmen gelangen, wofern nur diese Dogmen der
Vernunft selbst als Objekt vorgelegt worden sind.
10) Da etwas anderes der Philosoph und etwas
anderes die Philosophie ist, so hat jeder das Recht
und die Pflicht, sich der Autorität, welche er selbst
für die wahre erkannt hat, zu unterwerfen, aber
die Philosophie selbst kann und darf sich keinerlei
Autorität unterwerfen. 11) Die Kirche darf nicht
nur niemals gegen die Philosophie vorgehen, son-
dern muß auch die Irrtümer der Philosophie selbst
dulden und es ihr überlassen, sich selbst zu ver-
bessern. 12) Die Dekrete des Apostolischen Stuhls
und der römischen Kongregationen hindern den
freien Fortschritt der Wissenschaft. 13) Die Me-
thode und die Prinzipien, nach welchen die alten
scholastischen Lehrer die Theologie ausgebildet
haben, entsprechen den Bedürfnissen unserer Zeit
und dem Fortschritt der Wissenschaften ganz und
gar nicht. 14) Die Philosophie muß ohne alle
Syllabus.
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Rücksicht auf die übernatürliche Offenbarung be-
trieben werden. NB. Mit dem System des Ra-
tionalismus hängen größtenteils die Irrtümer
Anton Günthers zusammen, welche verworfen
werden in dem Schreiben an den Kardinal-Erz-
bischof von Köln „Eximiam tuam“ (15. Juni
1857) und in dem Brief an den Bischof von
Breslau „Dolore haud mediocri“ (30. April
18600.
§* 3. Indifferentismus und Latitu-
dinarismus. 15) Es steht jedem Menschen
frei, jene Religion anzunehmen und zu bekennen,
welche einer, durch das Licht der Vernunft geleitet,
für wahr hält. 16) Die Menschen können in der
UÜbung jedweder Religion den Weg des ewigen
Heiles finden und die ewige Seligkeit erlangen.
17) Wenigstens gute Hoffnung darf man über die
ewige Seligkeit aller jener haben, welche nicht in
der wahren Kirche Christi leben. 18) Der Pro-
testantismus ist nichts anderes als eine verschiedene
Form derselben wahren christlichen Religion, in
welcher es möglich ist, Gott ebensogut zu gefallen
als in der katholischen Kirche.
§* 4. Sozialismus, Kommunismus,
geheime Gesellschaften, Bibelgesell-
schaften, liberale Klerikervereine. Der-
gleichen Zeitübel werden oft und in den ernstesten
Ausdrücken verworfen in der Enzyklika „Qui pluri-
bus“ (9. Nov. 1846), in der Allokution „QOuibus.
duantisque" (20. April 1849), in der Enzyklika
„Noscitis et Nobiscum“ (8. Dez. 1849), in der
Allokution „Singulari qguadam" (9. Dez. 1854),
in der Enzyklika „Quanto conficiamur" (10. Aug.
1863).
§ 5. Irrtümer über die Kirche und
ihre Rechte. 19) Die Kirche ist keine wahre
und vollkommene, ganz freie Gesellschaft und hat
keine eignen und bleibenden, ihr von ihrem gött-
lichen Stifter verliehenen Rechte, sondern es ist
Sache der Staatsgewalt, zu bestimmen, welches
die Rechte der Kirche und die Schranken seien,
innerhalb deren sie diese Rechte ausüben soll.
20) Die Kirchengewalt darf ihre Autorität nicht
ohne Erlaubnis und Zustimmung der Staats-
regierung ausüben. 21) Die Kirche hat nicht die
Macht, dogmatisch zu entscheiden, daß die Religion
der katholischen Kirche die einzig wahre Religion
sei. 22) Die Verpflichtung, durch welche die katho-
lischen Lehrer und Schriftsteller durchaus gebunden
sind, ist allein auf jene Stücke beschränkt, welche
durch das unfehlbare Urteil der Kirche als von
allen zu glaubende Glaubensdogmen vorgelegt
werden. 23) Die römischen Päpste und die all-
gemeinen Konzilien haben die Grenzen ihrer Ge-
walt überschritten, Rechte der Fürsten an sich
gerissen (usurpierl) und auch in Festsetzung der
Glaubens= und Sittenlehren geirrt. 24) Die
Kirche hat nicht die Gewalt, Zwangsmittel an-
zuwenden, noch irgend eine direkte oder indirekte
Gewalt in zeitlichen Dingen. 25) Außer der dem
Episkopat inhärierenden Gewalt ist ihm eine
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