107
alterliches Kirchenstaatstum lebendig. Gelegentlich
wurde und wird er durch einen Hoheitsakt oder
gesetzgeberischen Vorstoß des Papstes in Erinne-
rung gebracht. Es werden Könige nicht aner-
kannt, Staatsgesetze für nichtig erklärt, Verdam-
mungsurteile gegen Ketzer erlassen. Durch Syl-
labus, Vatikanisches Konzil, Leos' XlII. Enzyklika
über den christlichen Staat vom 1. Nov. 1885 ist
das ganze System der mittelalterlichen Hoheits-
ansprüche dauernd und prinzipiell dem Quellen-
kreis des geltenden katholischen Kirchenrechts ein-
verleibt. Das Prinzip der Kirchenherrschaft ist
verwahrt. Ihre Wiederherstellung wird immerhin
als ein mögliches Ziel der Entwicklung offen ge-
halten. In diesem Sinn muß noch heute in der
staatlichen Kirchenpolitik mit dem mittelalterlichen
Kirchenstaatstum gerechnet werden. Dieser latente
Vorbehalt ist die bleibende und tiefste Quelle von
Beunruhigung und Mißtrauen. Grundbedingung
einer Versöhnung der katholischen Kirche mit dem
modernen Staat würde der grundsätzliche Verzicht
auf den fiktiven Fortbestand der mittelalterlichen
Kirchenherrschaft sein. Zu erwarten ist ein solcher
Verzicht nicht. Aber er könnte erklärt werden ohne
Schädigung, ja mit Gewinn für das religiöse
Wesen der katholischen Kirche" (Kahl, Kirchenrecht,
in Kultur der Gegenwart TI II, Abt. VIII1906)
280
Man könnte die schiefen und falschen Urteile
obiger Ausführungen sich selbst überlassen; allein
man darf nicht übersehen, welche Beunruhigung
solche Ausführungen in weiten Kreisen hervor-
rufen können und hervorrufen werden, falls die
Behauptung zuträfe, die Katholiken dürften gar
nicht wagen, in eine systematische Kritik der päpst-
lichen Hierokratie einzutreten, so sehr bestehe die
kirchliche Autorität auf deren „latenter“ Aufrecht-
erhaltung.
Wir werden deshalb im folgenden unbefangen
auf eine Kritik dessen, was man pöäpstliche Theo-
kratie nennt, eingehen; auch der Katholik ist daran
nicht gehindert. Was unlängst ein katholischer
Historiker geschrieben, gilt auch hier im besondern,
daß es nämlich „keine Tatsachen und Ereignisse
geben kann, an deren unumwundener, freimütiger
Darlegung dem Katholiken sein kirchlicher Stand-
punkt zu verhindern vermöchte" (St. Ehses in Lit.
Beil. der Köln. Volksz. 1907, Nr 25, 192 bei
Besprechung des IV. Bands von Pastors Papst-
geschichte). Dabei brauchen wir uns gar nicht zu
verhehlen, daß abgesehen von den unten noch zu
erwähnenden Verteidigern des hierokratischen Sy-
stems einzelne katholische Autoren die Sache ge-
legentlich zu „apologetisch“ behandelt haben und
daß insbesondere auf katholischer Seite man ge-
legentlich in den Fehler verfallen ist, alle Maß-
nahmen der Pöpste, die als hierokratisch uns vor-
geworfen werden, schlechtweg und immer aus den
betreffenden Zeitverhältnissen heraus rechtfertigen
zu wollen und unzweifelhafte hierokratische Er-
klärungen der Pöpste nicht zu berücksichtigen.
Theokratie.
408
Eine gewisse apologetische Tendenz ist sicherlich
katholischerseits nicht nur berechtigt, sondern ge-
radezu notwendig. Denn nicht wenige Maß-
nahmen und Forderungen der Kirche im Lauf der
Jahrhunderte werden mit Unrecht hierokratisch ge-
nannt und mit Unrecht grundsätzlichem Herrschafts-
anspruch der Kirche über den Staat zugeschrieben.
So ist zu betonen, daß die Zurückweisung staat-
licher Eingriffe in innerkirchliches Leben mit Hiero-
kratie nichts zu tun hat. Es ist keine hierokratische
Kassation von Staatsgesetzen und staatlichen Akten,
wenn der Papst Akte für ungültig erklärt, durch
die der Staat z. B. sich herausnimmt, Bischöfe
ihres kirchlichen Amts zu entsetzen. Es ist keine
Hierokratie, wenn die Kirche das Recht beansprucht,
auch „ohne Vorwissen der Regierung“ über die
Zugehörigkeit zur Kirche zu befinden und unter
Umständen aus der Kirchengemeinschaft auszu-
schließen. Ferner beruht durchaus nicht jede Ver-
teidigung des privilegium fori und der Immuni-
tät auf der hierokratischen Anschauung einer grund-
sätzlichen Exemtion des Klerus und der kirchlichen
Güter von der staatlichen Zuständigkeit; es kann
sich ebensowohl um den Gesichtspunkt der Ver-
teidigung überkommener historischer Rechte und
Privilegien handeln, mag nun an sich im einzelnen
Fall das Streben nach absoluter Aufrechterhaltung
historischer Rechte unter veränderten Verhältnissen
sachlich berechtigt und politisch klug sein oder nicht.
Anschauungen endlich, die in jedem Anspruch der
Kirche auf Freiheit und Selbständigkeit hiero-
kratische Tendenzen sehen, sind hier wohl zu er-
erwähnen, aber nicht weiter zu berücksichtigen.
Aber abgesehen von diesen unberechtigten Vor-
würfen hierokratischer Tendenzen haben wir doch
eine Reihe von zweifellos hierokratischen Herr-
schaftsansprüchen der Kirche. Das gilt sowohl
von einzelnen Maßnahmen wie von formellen
Kompetenzerklärungen, die historisch vorliegen.
(Zusammenstellung hierokratischer Texte aus dem
corpus jiuris canonici bei E. Eichmann, Der
recursus ab abusu nach deutschem Recht mit
besonderer Berücksichtigung des bayrischen, preu-
Wischen und reichsländischen Kirchenrechts historisch-
dogmatisch dargestellt. Untersuchungen zur deut-
schen Staats= und Rechtsgeschichte, hrsg. von
Gierke, 66. Hft (1903) 9.) Endlich darf auch
nicht verschwiegen werden, daß noch in neuerer
Zeit vereinzelte katholische Autoren das hierokra-
tische System als schlechtweg aus dem Wesen der
Kirche sich ergebend hinstellten. So der italienische
Jesuit Matthäus Liberatore, La chiesa e lo stato
(21872) (vgl. Martens, Liberatores kirchenpoli-
tisches System, in Zeitschr. für Kirchenrecht XV/I
231,240) und der 1880 verstorbene Speierer
Domkapitular Molitor, Die Dekretale „ Per vene-
rabilem (c. 13, X qui filii s. leg. IV. 17) von
Innozenz III. und ihre Stellung im öffentlichen
Recht der Kirche (1876) (vgl. Martens, Ein deut-
scher Vertreter des Hierokratismus, in Zeitschr. für
Kirchenrecht XVII 57,68).