Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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alterliches Kirchenstaatstum lebendig. Gelegentlich 
wurde und wird er durch einen Hoheitsakt oder 
gesetzgeberischen Vorstoß des Papstes in Erinne- 
rung gebracht. Es werden Könige nicht aner- 
kannt, Staatsgesetze für nichtig erklärt, Verdam- 
mungsurteile gegen Ketzer erlassen. Durch Syl- 
labus, Vatikanisches Konzil, Leos' XlII. Enzyklika 
über den christlichen Staat vom 1. Nov. 1885 ist 
das ganze System der mittelalterlichen Hoheits- 
ansprüche dauernd und prinzipiell dem Quellen- 
kreis des geltenden katholischen Kirchenrechts ein- 
verleibt. Das Prinzip der Kirchenherrschaft ist 
verwahrt. Ihre Wiederherstellung wird immerhin 
als ein mögliches Ziel der Entwicklung offen ge- 
halten. In diesem Sinn muß noch heute in der 
staatlichen Kirchenpolitik mit dem mittelalterlichen 
Kirchenstaatstum gerechnet werden. Dieser latente 
Vorbehalt ist die bleibende und tiefste Quelle von 
Beunruhigung und Mißtrauen. Grundbedingung 
einer Versöhnung der katholischen Kirche mit dem 
modernen Staat würde der grundsätzliche Verzicht 
auf den fiktiven Fortbestand der mittelalterlichen 
Kirchenherrschaft sein. Zu erwarten ist ein solcher 
Verzicht nicht. Aber er könnte erklärt werden ohne 
Schädigung, ja mit Gewinn für das religiöse 
Wesen der katholischen Kirche" (Kahl, Kirchenrecht, 
in Kultur der Gegenwart TI II, Abt. VIII1906) 
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Man könnte die schiefen und falschen Urteile 
obiger Ausführungen sich selbst überlassen; allein 
man darf nicht übersehen, welche Beunruhigung 
solche Ausführungen in weiten Kreisen hervor- 
rufen können und hervorrufen werden, falls die 
Behauptung zuträfe, die Katholiken dürften gar 
nicht wagen, in eine systematische Kritik der päpst- 
lichen Hierokratie einzutreten, so sehr bestehe die 
kirchliche Autorität auf deren „latenter“ Aufrecht- 
erhaltung. 
Wir werden deshalb im folgenden unbefangen 
auf eine Kritik dessen, was man pöäpstliche Theo- 
kratie nennt, eingehen; auch der Katholik ist daran 
nicht gehindert. Was unlängst ein katholischer 
Historiker geschrieben, gilt auch hier im besondern, 
daß es nämlich „keine Tatsachen und Ereignisse 
geben kann, an deren unumwundener, freimütiger 
Darlegung dem Katholiken sein kirchlicher Stand- 
punkt zu verhindern vermöchte" (St. Ehses in Lit. 
Beil. der Köln. Volksz. 1907, Nr 25, 192 bei 
Besprechung des IV. Bands von Pastors Papst- 
geschichte). Dabei brauchen wir uns gar nicht zu 
verhehlen, daß abgesehen von den unten noch zu 
erwähnenden Verteidigern des hierokratischen Sy- 
stems einzelne katholische Autoren die Sache ge- 
legentlich zu „apologetisch“ behandelt haben und 
daß insbesondere auf katholischer Seite man ge- 
legentlich in den Fehler verfallen ist, alle Maß- 
nahmen der Pöpste, die als hierokratisch uns vor- 
geworfen werden, schlechtweg und immer aus den 
betreffenden Zeitverhältnissen heraus rechtfertigen 
zu wollen und unzweifelhafte hierokratische Er- 
klärungen der Pöpste nicht zu berücksichtigen. 
Theokratie. 
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Eine gewisse apologetische Tendenz ist sicherlich 
katholischerseits nicht nur berechtigt, sondern ge- 
radezu notwendig. Denn nicht wenige Maß- 
nahmen und Forderungen der Kirche im Lauf der 
Jahrhunderte werden mit Unrecht hierokratisch ge- 
nannt und mit Unrecht grundsätzlichem Herrschafts- 
anspruch der Kirche über den Staat zugeschrieben. 
So ist zu betonen, daß die Zurückweisung staat- 
licher Eingriffe in innerkirchliches Leben mit Hiero- 
kratie nichts zu tun hat. Es ist keine hierokratische 
Kassation von Staatsgesetzen und staatlichen Akten, 
wenn der Papst Akte für ungültig erklärt, durch 
die der Staat z. B. sich herausnimmt, Bischöfe 
ihres kirchlichen Amts zu entsetzen. Es ist keine 
Hierokratie, wenn die Kirche das Recht beansprucht, 
auch „ohne Vorwissen der Regierung“ über die 
Zugehörigkeit zur Kirche zu befinden und unter 
Umständen aus der Kirchengemeinschaft auszu- 
schließen. Ferner beruht durchaus nicht jede Ver- 
teidigung des privilegium fori und der Immuni- 
tät auf der hierokratischen Anschauung einer grund- 
sätzlichen Exemtion des Klerus und der kirchlichen 
Güter von der staatlichen Zuständigkeit; es kann 
sich ebensowohl um den Gesichtspunkt der Ver- 
teidigung überkommener historischer Rechte und 
Privilegien handeln, mag nun an sich im einzelnen 
Fall das Streben nach absoluter Aufrechterhaltung 
historischer Rechte unter veränderten Verhältnissen 
sachlich berechtigt und politisch klug sein oder nicht. 
Anschauungen endlich, die in jedem Anspruch der 
Kirche auf Freiheit und Selbständigkeit hiero- 
kratische Tendenzen sehen, sind hier wohl zu er- 
erwähnen, aber nicht weiter zu berücksichtigen. 
Aber abgesehen von diesen unberechtigten Vor- 
würfen hierokratischer Tendenzen haben wir doch 
eine Reihe von zweifellos hierokratischen Herr- 
schaftsansprüchen der Kirche. Das gilt sowohl 
von einzelnen Maßnahmen wie von formellen 
Kompetenzerklärungen, die historisch vorliegen. 
(Zusammenstellung hierokratischer Texte aus dem 
corpus jiuris canonici bei E. Eichmann, Der 
recursus ab abusu nach deutschem Recht mit 
besonderer Berücksichtigung des bayrischen, preu- 
Wischen und reichsländischen Kirchenrechts historisch- 
dogmatisch dargestellt. Untersuchungen zur deut- 
schen Staats= und Rechtsgeschichte, hrsg. von 
Gierke, 66. Hft (1903) 9.) Endlich darf auch 
nicht verschwiegen werden, daß noch in neuerer 
Zeit vereinzelte katholische Autoren das hierokra- 
tische System als schlechtweg aus dem Wesen der 
Kirche sich ergebend hinstellten. So der italienische 
Jesuit Matthäus Liberatore, La chiesa e lo stato 
(21872) (vgl. Martens, Liberatores kirchenpoli- 
tisches System, in Zeitschr. für Kirchenrecht XV/I 
231,240) und der 1880 verstorbene Speierer 
Domkapitular Molitor, Die Dekretale „ Per vene- 
rabilem (c. 13, X qui filii s. leg. IV. 17) von 
Innozenz III. und ihre Stellung im öffentlichen 
Recht der Kirche (1876) (vgl. Martens, Ein deut- 
scher Vertreter des Hierokratismus, in Zeitschr. für 
Kirchenrecht XVII 57,68). 
 
	        
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