Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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tiefen, bis zu dem Grund desselben hinabreichen- 
den Riß, und dies ist nicht das geringste der Ubel, 
von welchen sie begleitet sind. Vor dieser Zerrüt- 
tung des Rechtsgedankens hat Gott Osterreich 
bis jetzt in Gnaden bewahrt und möge es in aller 
Zukunft bewahren. Daß Franz Joseph I. unser 
rechtmäßiger Kaiser sei, wird und kann niemand 
bestreiten, und deswegen ist es keinem Zweifel 
unterworfen, daß den von Sr Majestät erlassenen 
oder sanktionierten Gesetzen und Verordnungen 
die Anerkennung als gültige Richtschnur der bür- 
gerlichen Rechte und Rechtsverbindlichkeiten ge- 
bühre. Daher liegt es dem Osterreicher ob, die 
Verfassung als zu Recht bestehend anzuerkennen; 
versteht sich inner den Grenzen, welche jedem 
bürgerlichen Gesetz durch die Natur desselben ge- 
zogen sind“ (Wolfsgruber a. a. O. 515/516; die 
ganze Rede in: Hirtenbriefe, Reden, Zuschriften 
von Joseph Othmar Kardinal Rauscher, Fürst- 
erzbischof von Wien. Neue Folge III (1889) 
320/328. Eine Ansicht über die rechtliche Trag- 
weite der Allokution, die der von Kardinal Rau- 
scher vertretenen entgegengesetzt ist, war gleich nach 
der Allokution im Archiv für kathol. Kirchenrecht 
XX I(1868!] 173 vorgetragen worden). 
Wohl nicht ohne Hinblick auf den österreichi- 
schen Fall führt einer der hervorragendsten neueren 
katholischen Kirchenrechtslehrer grundsätzlich fol- 
gendes aus: „Jeder Macht (scil. dem Staat und 
der Kirche) eignet ihr Rechtsgebiet und können 
katholische Untertanen nicht zugeben, daß ein von 
der kirchlichen Behörde für schlecht oder nichtig er- 
klärtes Staatsgesetz deshalb kein Staatsgesetz sei, 
jene Erklärung hat vielmehr nur für den kirch- 
lichen Rechtsbereich Geltung und umgekehrt" 
(Scherer, Handbuch des Kirchenrechts 1 (1885) 
54; Anm. 16 beruft sich Scherer für die gleiche 
Lösung dieser „eminent praktischen Frage“ auf die 
Kanonisten Walter, Nardi, den Jesuiten Tapa- 
relli). Im selben Sinn äußert sich Sägmüller 
(Lehrbuch des kathol. Kirchenrechts I21909) 41): 
„Tatsächlich kann eine namentlich unter den heu- 
tigen Verhältnissen abgegebene Erklärung von 
seiten der obersten kirchlichen Behörde, daß ein 
Staatsgesetz oder ein ganzer Komplex von Staats- 
gesetzen unsittlich oder gar nichtig (Irritus) sei, 
nur die Bedeutung haben, daß dieselben für die 
Gewissen und den kirchlichen Rechtsbereich keine 
Geltung hälten. An der staatsrechtlichen Geltung 
derselben wird hierdurch nichts geändert.“ Weniger 
klar und einheitlich sind die Ausführungen von 
Böckenhoff. Katholische Kirche und moderner Staat 
(1911) 76.77. 
VI. Hierokratische Herrschaftsansprüche 
über die politische Stellungnahme der ein- 
zelnen Bürger. Es handelt sich auch hier nicht 
bloß um Behauptungen von Gegnern der Kirche, die 
diese dadurch zudiskreditieren suchen; auchvereinzelle 
kirchliche Theoretiker vertraten die Anschauung, die 
kirchliche Autorität habe das Recht, die Stellung- 
nahme der Katholiken in staatsbürgerlichen Fragen 
Theokratie. 
  
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zu bestimmen, nicht zwar absolut, sondern unter 
dem Gesichtspunkt, daß es im betreffenden Fall 
für das Wohl der Kirche im Zusammenhang der 
ganzen kirchenpolitischen Lage so erforderlich sei. 
Von kirchlich-autoritativer Seite wurde im Sinn 
dieser theokratischen Auffassung gehandelt, wenn 
auch nicht in eigentlicher Befehlsform, bei der 
Septennatsfrage. Es ist bekannt, wie die Führung 
des Zentrums dagegen grundsätzlich die Freiheit 
staatsbürgerlicher Entschließung beanspruchte mit 
der Folge, daß bei den deutschen Katholiken die Er- 
wähnung der Septennatsangelegenheit geradezu zur 
Bekenntnisformel dafür geworden ist, die Freiheit 
staatsbürgerlicher Entschließung auch gegenüber 
theokratischen Einflüssen sich zu wahren. Inner- 
halb der Kirche wie nach außen kann der Katholik 
dabei stets auf das Wort sich berufen, das Papst 
Pius X. unter dem 30. Okt. 1906 an Kardinal- 
Erzbischof Fischer von Köln in bedeutungsvoller 
Kundgebung geschrieben hat: Haec quidem ob- 
edientia, uti diuturna experientia constat, 
peramplam et integram, licet aliter nonnulli 
oblatraverint rei veritatis ignari, cuique re- 
linquit libertatem qduoad ea, qduae religionem 
non attingunt. Der Heilige Vater hatte an- 
erkennend sich ausgesprochen über die wiederholt 
bekundeten Beteuerungen, „daß die deutschen Ka- 
tholiken in allen religiösen Dingen der Autorität 
des Apostolischen Stuhls folgen wollen“, und 
fährt dann mit obigen Worten fort: „Wenn auch 
einige, welche die Wahrheit nicht kennen, sich 
heftig dagegen gewendet haben, so läßt doch dieser 
Gehorsam, wie eine fortwährende Erfahrung zeigt, 
einem jeden vollständige und uneingeschränkte Frei- 
heit in denjenigen Angelegenheiten, welche die 
Religion nicht betreffen“ (Kölnische Volkszeitung 
Nr 984 vom 17. Nov. 1906). 
VII. Freiheit der Kirche von jeder staat- 
lichen Zuständigkeit. Haben wir bisher hiero- 
kratische Theorien kennen gelernt, welche eine Herr- 
schaft der Kirche über den Staat und über das 
politische Leben der einzelnen Bürger bedeuten, so 
sind nunmehr solche theokratische Anschauungen zu 
würdigen, welche die Unabhängigkeit und Frei- 
heit der Kirche dahin auslegen, daß sie die Zu- 
ständigkeit des Staats auch in irdisch-weltlichen 
Daseinsbeziehungen der Kirche grundsätzlich und 
absolut verneinen. Nach diesen Anschauungen ist 
die Kirche als gesellschaftlicher Organismus ab- 
solut und in allen Dingen unabhängig von jeder 
irdischen Gewalt. 
Was zunächst das Kirchengut angeht, so 
gehören hierher die Theorien vereinzelter Kano- 
nisten, wonach die Kirche aus sich frei und selb- 
ständig die Arten des Erwerbs und die rechtliche 
Form bestimmt, in welcher er sich vollzieht. Wenn 
man näher zuschaut, handelt es sich freilich bei 
diesen Forderungen in letzter Linie gar nicht um 
eine thcokratische Grundlage, sondern einmal um 
die Zurückweisung staatlicher Ansprüche in inner- 
kirchlichen Verwaltungsfragen, sodann um einen
	        
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