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der Kirche an und für sich ein verschiedenes, mehr mittelalterlichen Staat, der sie in Szene setzte,
oder weniger enges Wechselverhältnis eingehen, sondern der katholischen Kirche zur Last gelegt
je nachdem er sich förmlich zum „Glaubensstaat“ werden, weil sie seit Gregor IX. (gest. 1241) die
auslebt oder aber zum interkonfessionellen bzw. weltlichen Ketzergesetze des Hohenstaufenkaisers
paritätischen „Rechtsstaat" sich fortentwickelt. Die Friedrich II. (1224) akzeptierte, billigte und durch-
erste Form war eine charakteristische Erscheinung geführt wissen wollte. Dazu kommt zweitens, daß
des Mittelalters, während die zweite der Gegen-
wart angehört. In beiden Hypothesen, deren
Verwirklichung von ganz bestimmten Voraus= i
setzungen abhängt, gestalten sich die Grundsätze der
die Erledigung rein kirchlicher Aufgaben durch den
durchgreisenden Staatsarm den sorglosen Klerus
in ein falsches Sicherheitsgefühl einwiegt und in
sittlich-geistiger Erschlaffung zu tatenloser Träg-
staatlich-politischen Toleranz grundverschieden. teit und Begquemlichkeit verführt, während die
a) Unter dem Glaubensstaat versteht man schablonenhafte Uberwachung der Religionsübung
jenen Staat, welcher auf die Glaubenseinheit der durch den Staat nur allzuleicht ein Geschlecht von
Staatsbürger gegründet ist und der Kirche für Heuchlern und Frömmlern heranzieht, denen die
alle ihre Glaubenslehren, Gesetze, Anordnungen Religion nicht zur Herzenssache wird. Drittens:
seinen weltlichen Arm leiht, während er seinerseits Bei ihrer Befugnis zur direkten Einmischung in
von der Kirche die geistige Unterstützung in allen rein weltliche Geschäfte erwächst der Kirche eine
rein weltlichen Angelegenheiten fordert. Dies Aufgabe, welche in ihren Amtspersonen ein über-
war die Staatsidee des Mittelalters. Kaisertum menschliches, fast unerschwingliches Maß von
und Papsttum, Staat und Kirche wurden „als Klugheit, Takt und Zurückhaltung voraussetzt und
die beiden großen Gliedmaßen des einen großen deshalb wohl von einzelnen hochveranlagten Päp-
Körpers der Christenheit gedacht, die einander sten und Bischöfen, nicht aber jahrhundertelang
zum Wohl desselben in der engsten Eintracht von der Gesamtreihe der Oberbehörden befriedigend
überall unterstützen sollten“ (F. Walter a. a. O. gelöst werden kann. Wegen der Unausbleiblichkeit
488 f). Eine typische Folgeerscheinung dieses Bönd. von Miß= und Ubergriffen hüben und drüben, von
nisses war die Wechselverbindung von Reichsacht Spannungen, Reibungen und Zwistigkeiten sind
und Kirchenbann. Der Glaubensstaat — auch der schwere Erschütterungen des staatlichen und kirch-
evangelische — ist nur dort wirklich durchführbar, lichen Ansehens notwendig an der Tagesordnung.
wo alle Staatsbürger sich zur gleichen Religion Viertens endlich liegt die Gefahr nahe, daß der
bekennen; denn ohne Glaubenseinheit als Basis Staatsschutz zuletzt in förmliche Bevormundung
ist derselbe naturrechtlich unmöglich. Mit dem der Kirche ausarte, indem der höhere Anspruch
Wesen des Glaubensstaats sind seine Licht= und der Kirche auf die Oberhoheit das entgegengesetzte
Schattenseiten, seine Vorteile und Schäden von Extrem des Cäsaropapismus herausfordert. So
selbst gegeben. Wenn die völlige Trennung von wird die Kirche zuletzt, statt zur Herrin, zur Skla-
Staat und Kirche (s. oben) das eine verwersiche v des Staats gemacht. Richtig hat H. Gelzer
Extrem bildet, so stellt der Glaubensstaat, so wie schon den alten Justinian durchschaut: „Justinian
wir ihn historisch kennen, das andere Extrem dar. ist die eigentliche Verkörperung des Cäsaropapis=
Zwar läßt sich vom ideal-abstrakten Standpunkt mus, eine Art Papa Re oder christlicher Kalif“
aus mancher schöne Vorzug an ihm rühmen: die (Histor. Zeitschrift LXXXVI 1901) 202). Die
Alleinherrschaft des christlichen Geistes in allen Geschichte hat unwiderleglich bewiesen, daß die
bürgerlichen und staatlichen Verhältnissen, in Hon- blutige Verfolgung der Ketzer durch den intole-
del und Wandel, in Gerichtsbarkeit und Erwerbs= ranten Glaubensstaat keinen sonderlichen Segen,
leben, in Ehe und Familie, in Wissenschaft und sondern viel Not, Elend und Ruin über die
Kunst; die ungeheure Stärkung der Staatswurzeln Menschheit gebracht hat. Eine gute Ubersicht dieser
durch den machtvollen Einfluß der Kirche und der Übel s. bei E. de Laveleye a. a. O. 157/162. Nur
Religion; die wohltätige Rückwirkung der Glau-
bens- und Staatseinheit zum Frommen beider
Gewalten u. dgl. Allein diese Vorzüge werden
durch vier schwere Nachteile teuer erkauft. Erstens
nötigt die Verquickung des Staatszwecks mit dem
der Religion den Glaubensstaat zur grundsätzlichen
Intoleranz gegen alle Glaubensirrungen, da diese
eo ipso zu Staatsverbrechen werden (s. Emil de
Lavelehe, Le gouvernement dans la démo-
cratie 1 (Par. 21892) 108). Ebendarum fallt
aber auch das ganze Odium staatlicher Härte und
Grausamkeit nicht so sehr auf den Staat, der sich
ihrer schuldig macht, als auf die Kirche, die heim
lich treibende Macht, zurück, wie denn die häß-
lichen Ketzerverbrennungen bis heute in einem
leichtverständlichen Cuidproquo nicht dem römisch-
verlangt die historische Gerechtigkeit, auch die Mo-
tive zu würdigen, welche die Päpste zur Anrufung
des weltlichen Arms gegen die oft genug gemein-
gefährlichen Häretiker bestimmten: das Gebot der
Notwehr und Selbstverteidigung, die Abschreckung
der von der Häresie Unangesteckten, die Forderung
der Sühne für die contumelia Croatoris, endlich
der Wunsch der Besserung und Zurückführung
der Verirrten (Belege s. bei P. Fredericq. Corpus.
documentorum Inquisitionis haereticae pra-
vitatis Neerlandicae 2 Bde, Genl 1887/96)).
Trotzdem hat der Katholik von heute keine Ursache,
dem zertrümmerten Glaubensstaat des Mittelalters
eine Träneins Grabnachzuweinen, wenn er auchweit
davon entfernt ist, die modernen Beziehungen zwi-
schen Kirche und Staatsgewalt als ideal zu preisen.