Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

507 Toleranz. 508 
der Kirche an und für sich ein verschiedenes, mehr mittelalterlichen Staat, der sie in Szene setzte, 
oder weniger enges Wechselverhältnis eingehen, sondern der katholischen Kirche zur Last gelegt 
je nachdem er sich förmlich zum „Glaubensstaat“ werden, weil sie seit Gregor IX. (gest. 1241) die 
auslebt oder aber zum interkonfessionellen bzw. weltlichen Ketzergesetze des Hohenstaufenkaisers 
paritätischen „Rechtsstaat" sich fortentwickelt. Die Friedrich II. (1224) akzeptierte, billigte und durch- 
erste Form war eine charakteristische Erscheinung geführt wissen wollte. Dazu kommt zweitens, daß 
des Mittelalters, während die zweite der Gegen- 
wart angehört. In beiden Hypothesen, deren 
Verwirklichung von ganz bestimmten Voraus= i 
setzungen abhängt, gestalten sich die Grundsätze der 
  
die Erledigung rein kirchlicher Aufgaben durch den 
durchgreisenden Staatsarm den sorglosen Klerus 
in ein falsches Sicherheitsgefühl einwiegt und in 
sittlich-geistiger Erschlaffung zu tatenloser Träg- 
staatlich-politischen Toleranz grundverschieden. teit und Begquemlichkeit verführt, während die 
a) Unter dem Glaubensstaat versteht man schablonenhafte Uberwachung der Religionsübung 
jenen Staat, welcher auf die Glaubenseinheit der durch den Staat nur allzuleicht ein Geschlecht von 
Staatsbürger gegründet ist und der Kirche für Heuchlern und Frömmlern heranzieht, denen die 
alle ihre Glaubenslehren, Gesetze, Anordnungen Religion nicht zur Herzenssache wird. Drittens: 
seinen weltlichen Arm leiht, während er seinerseits Bei ihrer Befugnis zur direkten Einmischung in 
von der Kirche die geistige Unterstützung in allen rein weltliche Geschäfte erwächst der Kirche eine 
rein weltlichen Angelegenheiten fordert. Dies Aufgabe, welche in ihren Amtspersonen ein über- 
war die Staatsidee des Mittelalters. Kaisertum menschliches, fast unerschwingliches Maß von 
und Papsttum, Staat und Kirche wurden „als Klugheit, Takt und Zurückhaltung voraussetzt und 
die beiden großen Gliedmaßen des einen großen deshalb wohl von einzelnen hochveranlagten Päp- 
Körpers der Christenheit gedacht, die einander sten und Bischöfen, nicht aber jahrhundertelang 
zum Wohl desselben in der engsten Eintracht von der Gesamtreihe der Oberbehörden befriedigend 
überall unterstützen sollten“ (F. Walter a. a. O. gelöst werden kann. Wegen der Unausbleiblichkeit 
488 f). Eine typische Folgeerscheinung dieses Bönd. von Miß= und Ubergriffen hüben und drüben, von 
nisses war die Wechselverbindung von Reichsacht Spannungen, Reibungen und Zwistigkeiten sind 
und Kirchenbann. Der Glaubensstaat — auch der schwere Erschütterungen des staatlichen und kirch- 
evangelische — ist nur dort wirklich durchführbar, lichen Ansehens notwendig an der Tagesordnung. 
wo alle Staatsbürger sich zur gleichen Religion Viertens endlich liegt die Gefahr nahe, daß der 
bekennen; denn ohne Glaubenseinheit als Basis Staatsschutz zuletzt in förmliche Bevormundung 
ist derselbe naturrechtlich unmöglich. Mit dem der Kirche ausarte, indem der höhere Anspruch 
Wesen des Glaubensstaats sind seine Licht= und der Kirche auf die Oberhoheit das entgegengesetzte 
Schattenseiten, seine Vorteile und Schäden von Extrem des Cäsaropapismus herausfordert. So 
selbst gegeben. Wenn die völlige Trennung von wird die Kirche zuletzt, statt zur Herrin, zur Skla- 
Staat und Kirche (s. oben) das eine verwersiche v des Staats gemacht. Richtig hat H. Gelzer 
Extrem bildet, so stellt der Glaubensstaat, so wie schon den alten Justinian durchschaut: „Justinian 
wir ihn historisch kennen, das andere Extrem dar. ist die eigentliche Verkörperung des Cäsaropapis= 
Zwar läßt sich vom ideal-abstrakten Standpunkt mus, eine Art Papa Re oder christlicher Kalif“ 
aus mancher schöne Vorzug an ihm rühmen: die (Histor. Zeitschrift LXXXVI 1901) 202). Die 
Alleinherrschaft des christlichen Geistes in allen Geschichte hat unwiderleglich bewiesen, daß die 
bürgerlichen und staatlichen Verhältnissen, in Hon- blutige Verfolgung der Ketzer durch den intole- 
del und Wandel, in Gerichtsbarkeit und Erwerbs= ranten Glaubensstaat keinen sonderlichen Segen, 
leben, in Ehe und Familie, in Wissenschaft und sondern viel Not, Elend und Ruin über die 
Kunst; die ungeheure Stärkung der Staatswurzeln Menschheit gebracht hat. Eine gute Ubersicht dieser 
durch den machtvollen Einfluß der Kirche und der Übel s. bei E. de Laveleye a. a. O. 157/162. Nur 
Religion; die wohltätige Rückwirkung der Glau- 
bens- und Staatseinheit zum Frommen beider 
Gewalten u. dgl. Allein diese Vorzüge werden 
durch vier schwere Nachteile teuer erkauft. Erstens 
nötigt die Verquickung des Staatszwecks mit dem 
der Religion den Glaubensstaat zur grundsätzlichen 
Intoleranz gegen alle Glaubensirrungen, da diese 
eo ipso zu Staatsverbrechen werden (s. Emil de 
Lavelehe, Le gouvernement dans la démo- 
cratie 1 (Par. 21892) 108). Ebendarum fallt 
aber auch das ganze Odium staatlicher Härte und 
Grausamkeit nicht so sehr auf den Staat, der sich 
ihrer schuldig macht, als auf die Kirche, die heim 
lich treibende Macht, zurück, wie denn die häß- 
lichen Ketzerverbrennungen bis heute in einem 
leichtverständlichen Cuidproquo nicht dem römisch- 
verlangt die historische Gerechtigkeit, auch die Mo- 
tive zu würdigen, welche die Päpste zur Anrufung 
des weltlichen Arms gegen die oft genug gemein- 
gefährlichen Häretiker bestimmten: das Gebot der 
Notwehr und Selbstverteidigung, die Abschreckung 
der von der Häresie Unangesteckten, die Forderung 
der Sühne für die contumelia Croatoris, endlich 
der Wunsch der Besserung und Zurückführung 
der Verirrten (Belege s. bei P. Fredericq. Corpus. 
documentorum Inquisitionis haereticae pra- 
vitatis Neerlandicae 2 Bde, Genl 1887/96)). 
Trotzdem hat der Katholik von heute keine Ursache, 
dem zertrümmerten Glaubensstaat des Mittelalters 
eine Träneins Grabnachzuweinen, wenn er auchweit 
davon entfernt ist, die modernen Beziehungen zwi- 
schen Kirche und Staatsgewalt als ideal zu preisen.
	        
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