Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Gegen die Praxis der deutschen Versicherungs- 
unternehmungen, fast ausnahmslos städtische Grund- 
stücke, und zwar insbesondere solche in Großstädten, 
zu beleihen, sind bereits mannigfache Bedenken ge- 
äußert worden. 
Die Geschäftsberichte des Kaiserlichen Aufsichts- 
amts geben hierüber folgende Daten an: 
Von 1905 bis 1907 entfielen auf ländliche 
Grundstücke 120 Darlehen mit 5,6 Mill. M, auf 
städtische Grundstücke 9478 Darlehen mit 995,7 
Mill. M. Davon auf 
  
  
  
  
  
Dar- mit 
lehen Mill. M 
Berlin und Vororte 3206 619 
Sonstiges Preuße 3107 210,2 
Bayern 258 19,8 
Sachsen 402 32,5 
Württemberg. 1037 42,8 
Baden 434 20 
Hessen .. . 104 2,8 
Hansastädbhtt 725 26 
Sonstiges Deutsches Reich19 7,3 
Ausland (Wien, Prag, Karlsbad, 
Parissg 66 15,2 
Gesamtsumme 9478| 995,6 
Der Prozenteanteil der städtischen, hier wieder 
der großstädtischen Grundstücke am Darlehensgenuß 
seitens der Versicherungsgesellschaften ist also ein 
sehr verschiedener. Während auf die ländlichen 
Grundstücke 1,3 % aller Darlehen mit 0,56 % An- 
teil an dem Gesamtbetrag kamen, entfielen auf 
städtische Grundstücke 98,7%% aller Darlehen und 
99,44 % aller Beträge. 
Warum diese Erscheinung? Den Gesellschaften 
stehen wenige, aber sehr tüchtige Taxatoren hochwer- 
tiger städtischer Objekte bereits seit langem zur Ver- 
fügung, während für das Land eine eigne Organi- 
sation geschaffen werden müßte und außerdem die 
Zersplitterung in kleine und kleinste Darlehen nötig 
werden würde. Daß die Verzinsung des Kapitals 
in den Großstädten mit den hohen Mietpreisen auch 
eine bessere ist, wird nicht in Abrede gestellt werden 
können. Eine Wertverminderung des betreffenden 
beliehenen Objekts ist auch nicht gut denkbar, da 
die Mieter durch ihre Forderungen eine baulich 
gute Instandhaltung erheischen werden. 
Sodann darf man nicht vergessen, daß viele Ge- 
sellschaften, was in dieser Statistik nicht recht er- 
sichtlich ist, viele Darlehen an Gemeinden auf dem 
platten Land vergeben, was indirekt natürlich wie- 
der der ländlichen Bevölkerung zugute kommt. 
Neben den gemeindlichen Darlehen könnten in 
Zukunft auch Darlehen an Darlehenskassenvereine, 
also an Genossenschaften mit unbeschränkter Haf- 
tung, durch Vermittlung ihrer Zentral-Kredit- 
AuSgleichsstellen vergeben werden. Freilich sind die 
Darlehenskassenvereine in allererster Linie zur Be- 
friedigung des ländlichen Personalkredits, nicht 
des ländlichen Realkredits ins Leben gerufen wor- 
den und die Gewährung von Personalkredit seitens 
der Versicherungsgesellschaften dürfte aus verschie- 
denen Gründen nicht geringen praktischen Schwie- 
rigkeiten begegnen. 
Wenn man in der hypothekarischen Anlage eine 
im Noftfall leicht entstehende Illiquidität befürchten 
Versicherungswesen. 
  
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zu müssen glaubte, so dürfte doch die Möglichkeit, 
erstklassige Hypotheken jederzeit zu lombardieren, 
zu wenig bedacht worden sein. 
Die übrigen Kapitalanlagen (Anlage in eignen 
Grundstücken, Kautionsdarlehen sowie Darlehen 
gegen Wechsel) treten in Deutschland im Vergleich 
mit den Hypothekendarlehen ganz in den Hinter- 
grund. 
Wenn man bedenkt, daß beispielsweise die Ein- 
nahmen des preußischen Staats aus den gesamten 
Steuern für 1906 nach dem Etat 297 Mill. M., 
die Nettoprämien der deutschen Privatversiche- 
rungsgesellschaften im gleichen Jahr 955 Mill. M 
betrugen, die preußischen Staatsschulden 1906 auf 
7.4 Milliarden, die Verpflichtungen der deutschen 
Lebensversicherungsgesellschaften allein für Kapi- 
talversicherung auf 10,7 Milliarden & sich beliefen, 
ist es wohl erklärlich, wenn schon seit Jahren in 
den Kreisen der Regierung der Plan erwogen wird, 
die privaten Versicherungsgesellschaften durch Ge- 
setz zu zwingen, einen Teil ihrer Vermögensbe- 
stände in Reichs= und Staatsanleihen anzulegen. 
Man erwartet von dieser Maßnahme eine Hebung 
der Kurse der notleidenden Staatspapiere. 
Der §19 des preußischen Gesetzes vom 25. Juni 
1910 betr. die öffentlichen Feuerversiche- 
rungsanstalten legt diesen die Verpflichtung auf, 
mindestens 25% ihrer Vermögensbestände in 
Reichs= oder preußischen Staatsanleihen anzu- 
legen. Eine ähnliche Auflage hat das preußische 
Ministerium der neu gegründeten Lebensversiche- 
rungsanstalt der ostpreußischen Landschaft gemacht. 
Bei der gesetzlichen Neureglung der deutschen 
Sozial-(Arbeiter-)Versicherung (Reichsversiche- 
rungsordnung) ist in § 1356 bestimmt worden, 
daß die Versicherungsanstalt mindestens ein Viertel 
ihres Vermögens in Anleihen des Reichs oder der 
Bundesstaaten anlegen muß, die öffentlichen 
Versicherungsanstalten ebenfalls mindestens ein 
Viertel ihres Vermögens in Anleihen des Reichs 
oder der Bundesstaaten anlegen müssen. 
Das geplante Gesetz würde also vor allem die 
privaten Lebensversicherungsgesellschaften, Aktien- 
und Gegenseitigkeitsgesellschaften treffen, da ja 
die Kapitalien der nicht der Lebensversicherung 
zuzuzählenden Versicherungsgesellschaften kaum 
1 Milliarde betragen. Die durch das Gesetz be- 
dingte Ergänzung des Wertpapierbestands würde 
wohl lediglich auf Kosten der Hypotheken und 
Kommunaldarlehen erfolgen. Da die Kommunal= 
darlehen wegen verschiedener Vorzüge wohl nicht 
verringert, eher vermehrt werden dürften, würde 
die Vermehrung der Wertpapierbestände von rund 
32% (25% u. 7% ) und später die Anlage von 
rund 24% des gesamten Vermögenszuwachses 
vollständig zu Lasten des Hypothekenzuwachses ge- 
schehen. 
Do die Ergänzung des Wertpapierbestands le- 
diglich auf Kosten der hypothekarischen Anlagen 
vor sich gehen muß, ergibt sich die finanzielle 
Wirkung des Gesetzes aus dem Unterschied der
	        
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