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nalen Gerichts besteht. Anders liegt die Frage
bezüglich der Kodifikation gewisser einzelner
Materien, deren Reglung durch Gewohnheits= oder
Vertragsrecht bereits der Vollendung nahegerückt
ist. Hier ist denn auch in der Tat neuerdings ein
entschiedener Fortschritt zu verzeichnen. Bedeutende
und wichtige Teile des internationalen Privat-
und Prozeßrechts fanden durch die erwähnten
Abkommen von 1896 und 1902 ihre Reglung,
desgleichen die Frage der friedlichen Erledigung
von internationalen Streitigkeiten durch die Haager
Konventionen von 1899 und 1907, sowie endlich
das Landkriegsrecht und der größte Teil des See-
kriegs= und des Rechts der Neutralen durch die
Haager Abkommen von 1899 und 1907 und die
Londoner Deklaration von 1909 (vgl. auch Art.
Krieg IV, 2).
An privaten Versuchen, das gesamte Völker-
recht zu kodifizieren, hat es nicht gefehlt. Schon
Bentham war es, der einen solchen Kodex entwarf.
Ihm folgte der französische Nationalkonvent 1792.
Von neueren Versuchen seien erwähnt die von
Bluntschli(Das moderne Völkerrecht. als Rechts-
buch dargestellt (1868, 71878.), Dudley Field
(1872, 218761, Fiore 1890, 21898f, ferner die
„Amerikanischen Kriegsartikel“ von Lieber (1863)
und die offizielle Instruktion für die nordameri-
kanische Kriegsmarine (United States Naval
War Code) von Stockton. Dem 1873 zu Gent
begründeten Institut de droit international und
der gleichzeitig ins Leben getretenen Gesellschaft
für die Reform und Kodifikation des Völkerrechts
(Asscciation de droit international) verdanken
wir eine Reihe wertvoller Vorarbeiten und Ent-
würfe für die Kodifikation einzelner Materien.
VI. Geschichte. Ein Völkerrecht im heutigen
Sinn als ein System von Rechtsnormen für die
gegenseitigen Rechte und Pflichten der Staaten im
Verkehr miteinander kann es erst von dem Augen-
blick an geben, wo die Staaten einander als gleich-
berechtigt anerkennen, sich als Glieder einer Kultur-
und Interessengemeinschaft fühlen, sich der Not-
wendigkeit des gegenseitigen dauernden Verkehrs
bewußt sind. Etwas anderes aber ist die Erkenntnis
und Anerkennung eines Systems von Rechts-
normen als die tatsächliche Geltung und Aner-
kennung von einzelnen Rechtsnormen. Und solche
lassen sich nachweisen, soweit das Auge des Histo-
rikers reicht. Sobald Staaten, Völker und Stämme
miteinander in Verkehr treten, zeigen sich auch
Normen, die diesen Verkehr zu regeln suchen. Die
Geschichte des Völkerrechts beginnt mit der Ge-
schichte der Menschheit selbst.
1. Im Altertum ist das alles beherrschende
Prinzip Absonderung der Völker, Ssborschhn
des eignen Staals, der eignen Kultur, feindselige
Abschließung gegenüber den „Barbaren“. Gleich-
wohl zeigen sich gewisse völkerrechtliche Ansätze.
Die kriegerische Begegnung zweier Völker wird
durch einen Friedensvertrag mit gegenseitigen
rechtlichen Folgen beendet (es sei an den berühmten
Völkerrecht.
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Chetavertrag, den Friedensschluß zwischen Ramses
d. Gr. und dem Chetafürsten, ca 1400 v. Chr.
erinnert; vgl. die Hethiter des Buches Josue
9, 1 u. 12, 8), die Ausdehnung des Handels,
die Gründung von Kolonien ruft Wechselbe-
ziehungen hervor, die rechtlichen Normen unter-
liegen. Insbesondere sind es dann religiöse Ein-
flüsse, die gewisse Symptome der Völkerrechts-
idee aufkommen lassen, so in den verschiedenen
griechischen Symmachien und Bündnissen, ins-
besondere den Amphyktionenbünden, die auf dem
Gedanken einer Gemeinschaft selbständiger Staaten
beruhen, das gegenseitige Verhalten in Kriegs-
und Friedenszeiten regeln, noch mehr das Institut
der Fetialen bei den Römern, eines Priesterkolle-
giums, dessen Mitwirkung bei der Kriegserklärung,
beim Friedensschluß, bei Verträgen erforderlich
erscheint; nicht minder sind die Anerkennung der
Unverletzlichkeit der Gesandten, gewisse Ansätze des
Fremdenrechts Ausflüsse religiöser Anschauungen.
Einer weiteren Entwicklung zum wirklichen Völker-
recht steht aber das Grundprinzip der römischen
Politik, die Beherrschung der Welt entgegen,
Freundschaftsverträge mit noch unbesiegten Völkern
sind nicht Ausfluß der Anerkennung einer Gemein-
schaft gleichberechtigter Staaten, sondern haben nur
die notgedrungene Reglung individueller Rechts-
verhältnisse zum Ziel.
2. Auch der Sieg des Christentums über
den antiken Staat änderte zunächst nichts an dem
Verhältnis Roms zu den ihm nicht zugehörigen
Völkern. Nach dem Sturz des Römerreichs um-
schlingt dann ein gemeinsames Band die christ-
lichen Staaten, Erhaltung und Weiterverbreitung
der christlichen Religion, Sitte und Kultur ist das
ihnen allen gemeinsame Interesse. Ihre gemein-
same Organisation finden die christlichen Völker
in der Kirche unter dem Papsttum und dem römi-
schen Kaisertum deutscher Nation. So zu einem
alle christlichen Völker und Staaten umfassenden
Weltreich, wenigstens nach den rechtlichen An-
schauungen der Zeit, vereinigt, ist auch jetzt für die
Grundlage des Völkerrechts, für die Anerkennung
selbständiger, unabhängiger Staaten kein Raum.
Noch 1493 kommt dies zum Ausdruck, wenn
Alexander VI. die entdeckten überseeischen Länder
unter Spanien und Portugal verteilt. Anderseits
ist aber nicht zu verkennen, daß das Christentum
die Kriegführung mildert, Gefangene für unbe-
dingt schutzbedürftig erklärt, die Sklaverei be-
kämpft, die Beilegung von Streitigkeiten durch
päpstlichen Schiedsspruch erleichtert. Insbesondere
war es dann die aus jenem den Staaten gemein-
samen Interesse an der Verbreitung des Christen-
tums geborene gemeinsame Aktion der Kreuzzüge,
die das Völkerrecht mächtig förderte. Der Okzi-
dent wird in dauernde Handelsbeziehungen mit
dem Orient gebracht, die nach Untergang der
dortigen christlichen Staaten durch den Abschluß
der Kapitulationen (s. d. Art.) und die Begrün-
dung des Instituts der Konsuln (s. d. Art.) ge-