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Tanzböden verführen, vorzuziehen. Die Fabrik-
arbeiterinnen suchen in bedenklich großer Zahl
ihre Haupterholung auf den Tanzböden und im
öden Sinnesrausch, worüber die Schrift Göhres:
„Drei Monate Fabrikarbeiter", traurigen Auf-
schluß gibt.“
Gegen diese Bestrebungen, das Volk in er-
höhtem Maß zur Teilnahme an den geistigen Kul-
turgütern heranzuziehen, kann man nicht eine Un-
fähigkeit des Arbeiters zu künstlerischem Genießen
geltend machen. Es steckt viel Idealismus im Pro-
letariat, und zahlreiche Wortführer der moder-
nen Volksbildung, wie Reyer, Reich, Bäcker usw.,
sprechen es offen aus, daß der Kunstenthusias-
mus in den unteren Schichten des Volks größer
und echter sei als in den besitzenden Klassen, wo
vielfach das Kunstverständnis zu wünschen übrig
ließe, und es bedürfe nur der Förderung und Lei-
tung des natürlichen Schönheitsgefühls. Lichtwark,
bekannt durch seine interessanten Versuche, „die
Kunst im Leben des Kindes“ zur Geltung zu
bringen, stellt folgende Grundsätze auf: 1) Der
Arbeiter habe bewiesen, daß er den Wunsch hat,
seine angeborene Befähigung zum Kunstgenuß
auszubilden, und daß er jedem ernstgemeinten Ver-
such, ihm den Weg zur Kunst zu ebnen, entgegen-
kommt. 2) Da ein Wesensunterschied zwischen
dem Empfindungsvermögen des Arbeiters und des
Gebildeten nicht bestehe, dürfe kein Lehrgang ge-
sucht werden, der auf der Annahme einer ge-
ringeren Befähigung aufgebaut wäre. 3) Es sei
im Gegenteil mit der Tatsache zu rechnen, daß
der Arbeiter wie die heranwachsende Jugend noch
nicht in allen den Vorurteilen befangen sei, die
den höheren Ständen die Unmittelbarkeit der
Empfindung zu verkümmern pflegen (Die Er-
ziehung des Volks auf dem Gebiet der bildenden
Kunst 86 s).
V. Eeschichkliches. Die Volksbildungsbestre-
bungen stehen in unmittelbarem Zusammenhang
mit der sozialen Bewegung unserer Tage und sind
mit ihr erstarkt. Indes hat auch früher die Volks-
bildung im Christentum eine wichtige Rolle ge-
spielt. Sie beruht auf der Wertschätzung der
menschlichen Seele, die in ihren beiden Grund-
kräften: Verstand, Wille und Gemüt, der Bildungs-
arbeit bedarf. Die Bemühungen der Mönche um
Bildung des Volks finden auch die Anerkennung
protestantischer Gelehrten (vgl. z. B. v. Nathusius,
Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der so-
zialen Frage (21897) 332). Das war Bildungs-
tätigkeit im großen Stil und sozusagen am Roh-
material. Bis in die Gegenwart arbeitet die Kirche
unverdrossen, nach oft schrecklichen Unterbrechungen,
daran, in den Missionen christliche Gesittung und
Kultur zu verbreiten. „Die Klosterschulen des
Mittelalters hatten den bildungsfähigen Elementen
des Volks in kurzer Zeit, ohne ihnen große Opfer
zuzumuten, eine beachtenswerte Bildung über-
mittelt, und noch im 16. und 17. Jahrh. konnte
der Schüler, wenn er früh begonnen, zugleich mit
Volksbildung.
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der Geschlechtsreife den Doktorhut erlangen; auch
der Unbemittelte konnte unter diesen Umständen
ein höheres Wissen erlangen“ (Neyer, Hand-
buch 89). Darum ist es grundlos, die Volks-
bildung als Errungenschaft der Reformation hin-
zustellen: die Bewegung des 16. Jahrh. habe das
Bildungsmonopol der beiden obersten Stände be-
seitigt und mit der Befreiung der Wissenschaft die
Grundlage zur Volksbildung gelegt (Apel S. 8).
Es kann der Reformation, mag ihr auch ein Im-
puls auf manchen Gebieten der Forschung, ine-
besondere nach der kritischen Seite, zu danken
sein, unmöglich eine Priorität vor den Bildungs-
bestrebungen der katholischen Kirche zuerkannt
werden. Das „Bildungsmonopol“ betrifft wohl
nur die Zeit des Humanismus, nicht aber die
ganze katholische Vergangenheit.
Es hat des Anstoßes durch die Emanzipations-
kämpfe des vierten Standes bedurft, um die Volks-
bildung um die Mitte des 19. Jahrh. in regeren
Fluß zu bringen. Es brauchte 400 Jahre seit der
Erfindung der Buchdruckerkunst, ehe der Gedanke,
öffentliche Bibliotheken für die Allgemeinheit zu
errichten, zum Durchbruch kam. Bei dem Zu-
sammenhang und der Wechselwirkung, die zwischen
den geistigen und den wirtschaftlichen Bewegungen
bestehen, wurde auch die Bildung umgestaltet,
demokratisiert. Die Massenhaftigkeit ist auch
für die moderne Bildung charakteristisch. „Darin
eben“, sagt Lamprecht (Zur jüngsten deutschen
Vergangenheit [1903 275), „beruht der Demo-
kratismus unserer Zeit: die moderne Wirtschaft
schafft für die Masse; und wenn dabei die Anfangs-
zeiten des freien Unternehmertums die Massenver-
breitung gerade der geistigen und seelischen Ele-
mente des modernen Lebens vernachlässigten, so
haben die Zeiten der Blüte und der Vollendung
dieses Versäumnis reichlich nachgeholt; davon
zeugt heute die Vermehrung der Zeitungen und
das Wachsen ihrer Auflagen seit etwa einem Jahr-
zehnt, zeugen Volksbibliotheken und unentgeltliche
Lesezimmer, Arbeitervorstellungen und Arbeiter-
konzerte, billige Wochenschrifsten und Zehnpfennig-
literatur, Wandervorträge und Volkshochschul-
bewegung — tausend anderer Veranstaltungen
nicht zu gedenken.“
Nachdem die ersten, sozusagen brutalen Zeiten
der modernen kapitalistischen Unternehmung vor-
über waren, erkannten die Unternehmer selbst die
Vorteile, die ihnen aus einem mehr gebildeten
Arbeiterstand hinsichtlich der Disziplin usw. er-
wachsen, wie überhaupt den oberen Klassen die
Ahnung aufdämmerte, welche Gefahr für die ganze
Kultur und die Kraft des Volkslebens bestehe,
wenn die Besitzgegensätze noch durch die Kluft der
Bildung verschärft würden. Anderseits begriffen
auch die lohnarbeitenden Klassen nach und nach
den Wert erhöhter Bildung. Es ist gewiß kein
Zufall, daß zugleich mit der Forderung einer
besseren wirtschaftlichen Existenz der unteren
Klassen der Gedanke auftaucht, sie auch in er-