Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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des Verfahrens gibt diesem Ruhe und Würde, 
zwingt Richter und Anwalt zu einer objektiven 
und aufmerksamen Handhabung ihres Amts und 
verbreitet in dem Volk die Überzeugung von der 
gerechten Handhabung des Rechts. 
Die Hauptperson des Gerichts ist der Richter, 
welcher die Gerichtsgewalt teils selbst teils durch 
die Leitung der übrigen Gerichtspersonen ausübt. 
Ihm steht zu: die Prozeßleitung, die Aburteilung 
des Rechtsstreits und endlich die Vollstreckung, 
d. h. die Anordnung der zur Ausführung seiner 
Urteile und Befehle erforderlichen Maßregeln. 
Der Richter übt Staatshoheitsrechte aus. Die 
Ausübung des Richteramts erfordert die Ernen- 
nung zum Richter, die vorgängige Ableistung des 
Diensteids, den fortdauernden Besitz des Richier- 
amts, sowie den Besitz der zur Ausübung der 
richterlichen Tätigkeit unentbehrlichen Geistes= und 
Körperkräfte. Die Aberkennung der Fähigkeit zur 
Bekleidung eines öffentlichen Amts macht unfähig 
auch zur Bekleidung des Richteramts. Der an 
sich zu diesem befähigte und berufene Richter kann 
in einer bestimmten Streitsache von seiner Aus- 
übung ausgeschlossen sein, sei es kraft Gesetzes, sei 
es zufolge Antrags der Parteien. Das Richter- 
amt verpflichtet den Richter zur Gesetzmäßigkeit 
und Amtsverschwiegenheit, sowie zur Unparteilich- 
keit und rascher Justiz. Den vorgesetzten Justiz- 
behörden schuldet der Richter gesetzmäßigen Ge- 
zusem, der sich aber nicht erstreckt auf Urteil und 
t 
echt. 
In Deutschland erfolgt die Rechtsprechung bei 
den Erstinstanzgerichten, d. h. bei denjenigen Ge- 
richten, welche zur Behandlung eines Streitfalls 
gesetzlich zunächst berufen und deshalb für diese 
Entscheidung allein zuständig sind, je nach der 
Art des Streitgegenstands, bald durch Einzel- 
richter, bald durch Richterkollegien. Es 
bestehen nämlich zweifache Erstinstanzgerichte, und 
zwar in der Art, daß Streitwerte bis zu 800 M 
sowie Sachen, welche ihrer Natur nach eine raschere 
Erledigung erfordern, durch die mit nur einem 
Richter besetzten Amtsgerichte, die übrigen bürger- 
lichen Rechtsstreitigkeiten dagegen durch die kol- 
legial organisierten Landgerichte zu entscheiden 
sind. Bei den Landgerichten wird die Zivilgerichts- 
barkeit nicht von dem ganzen Landgericht, sondern 
von der mit einem Präsidenten oder einem Direktor 
als Vorsitzenden und zwei Landrichtern besetzten 
Zivilkammer ausgeübt, bzw. in Handelssachen 
von der durch die Landesjustizverwaltung nach 
Bedarf eingerichteten, mit einem Mitglied des 
Landgerichts als Vorsitzenden und zwei Handels- 
richtern besetzten Handelskammer. Gewerbliche 
Streitigkeiten zwischen Arbeitern und Arbeitgebern 
entscheiden in erster Instanz Gewerbegerichte nach 
Maßgabe des Gesetzes vom 29. Sept. 1901, 
ebenso Streitigkeiten aus dem Dienst= oder Lehr- 
verhältnis zwischen Kaufleuten und ihren Hand- 
lungsgehilfen und Handlungslehrlingen Kauf- 
mannsgerichte nach dem Gesetz vom 6. Juli 1904, 
Zivilprozeß. 
  
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soweit solche errichtet find. Für die Deutschen in 
den Schutzgebieten und im Ausland bestehen als 
Erstinstanzgerichte Kolonial= und Konsulargerichte 
(Gesetz vom 7. April 1900, Schutzgebietsgesetz 
vom 25. Juli 1900). 
Der Gerichtschreiber ist die mit dem 
Gerichtschreiberamt oder bestimmten Funktionen 
desselben betraute Gerichtsperson. Der Ge- 
richtsvollzieher ist der zur Zustellung und 
Vollstreckung der Entscheidung obrigkeitlich be- 
stellte Beamte. Nach gemeinem Recht waren das 
Amt des Richters und das Amt des Gericht- 
schreibers die einzigen gerichtlichen Amter. Zur 
Zustellung der prozessualen Verfügungen und zu 
deren Vollstreckung waren dem Richter Boten und 
Richter beigegeben. Das französische Recht stellte, 
abweichend hiervon, aber an altgermanische Ein- 
richtungen anknüpfend, neben den Richter und 
Gerichtschreiber als relativ selbständigen Ge- 
richtsbeamten den Gerichtsvollzieher, huissier. 
Das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz führte dieses 
in den französisch-rechtlichen Gebieten Deutsch- 
land bestehende Verwaltungsamt in die deutsche 
Gerichtsverfassung ein, um den Richter zu ent- 
lasten und den Prozeßbetrieb durch die Parteien 
freier zu gestalten. Dadurch ist die der Gerichts- 
gewalt zugehörige Vollstreckungsfunktion der Hand 
des Richters entzogen und einer eignen, nicht 
unter den Garantien der richterlichen Unabhängig- 
keit stehenden Behörde übertragen. Die nähere 
Gestaltung dieser Behörde ist ebenso wie die Ge- 
schäftsordnung der Gerichtschreibereien den Lan- 
desjustizverwaltungen überlassen. 
Parteien sind die an einem streitigen Rechts- 
verhältnis beteiligten Personen; sie stehen sich als 
Kläger und Beklagter, als Gegner, gegenüber. 
Kläger heißt diejenige Partei, welche das Gericht 
selbständig und angriffsweise angeht, um ihren 
Anspruch auf Anerkennung des ihr wirklich oder 
angeblich zustehenden Rechts durchzusetzen. Be- 
klagter ist derjenige, welcher durch seine Störung 
oder Nichtanerkennung des klägerischen Anspruchs 
den Antrag auf Beseitigung der Störung oder auf 
Feststellung des Anspruchs gegen sich begründet 
hat. Die Berechtigung des Beklagten, auf den 
Angriff der Gegenseite sein Recht verteidigungs- 
weise geltend zu machen, ist das Einrederecht. In 
einem Rechtsverhältnis können mehr als zwei 
Personen als Berechtigte oder Verpflichtete ver- 
bunden sein, in dem Prozeß aber gibt es andere 
Parteirollen als die des Klägers und des Be- 
klagten nicht, und es können sich auch nur diese 
beiden als Gegner gegenüberstehen. Die Parteien 
sind ebenso wesentliche Glieder des Prozesses wie 
das Gericht; sie sind die Prozeßsubjekte, in ihrem 
Namen und für ihre Rechnung wird der Rechts- 
streit geführt. Nemo iudex sine actore; un- 
aufgefordert hat kein Richter tätig zu sein. Da- 
mit jemand Prozeßpartei sein kann, muß er sowohl 
die Fähigkeit haben, an einem Privatrechtsver- 
hältnis als Berechtigter oder Verpflichteter be-
	        
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