Full text: Prinz Max von Baden. Erinnerungen und Dokumente.

aus einer solchen Depression Balfours geboren war, obgleich die darin 
enthaltene Berufung auf die Kriegszielnote der Entente an Wilson! wahr- 
lich nicht darauf hindeutet. Wie dem auch sei — ich bin der Meinung, daß 
die Vernunft in jedem Falle bereits verflogen war, bis zu dem Termin, 
an dem frühestens die Erklärung über Belgien hätte einlaufen können. 
Drittens heißt es, daß die Papstnote der beste Anlaß war, um die 
Sprengbombe in die englische Offentlichkeit zu werfen. Ich glaube, daß 
eine noch günstigere Gelegenheit gegeben war, 
als am 27. Juli der Führer der Opposition im Unterhause, 
Asquith, die direkte Frage an Michaelis richtete, ob er be- 
reit sei, Belgien wiederberzustellen. — 
Die Mißgriffe der Regierung Michaelis in der inneren Politik sind 
vergessen; in Wahrheit wiegen sie noch schwerer. Ich möchte behaupten, 
daß unser Verfassungsleben heute noch an gewissen Präzedenzfällen aus 
jener Periode krankt. 
Man frohlockte damals in reaktionären Kreisen, daß man der Reichs. 
tagsmajorität einen Kanzler präsentiert hatte, der nicht der Mann ihres 
Vertrauens, sondern ihres Mißtrauens war. Dieses Mißtrauensverhält- 
nis zeitigte aber gerade parlamentarische Machtansprüche, wie sie damals 
in keinem demokratischen Lande geduldet wurden. Sehr bald wurde eine 
Kontrollinstanz geschaffen, der sogenannte Siebener- oder „Wohlfahrts". 
ausschuß, der Regierungsdokumente einsehen wollte, ehe sie veröffentlicht 
wurden. Zunächst nur diplomatische Noten; aber der Wunsch nach einer 
Vorzensur von Kanzlerreden tauchte bald auf. Wir haben hier die un- 
befugte Einmischung der Legislative in die Exekutive in der denkbar schlimm- 
sten Form. Die notwendige Folge ist die Lähmung der NRegierung zu 
raschem Handeln, und zwar auch in internationalen Krisen, da Geistes- 
gegenwart und prompte Ausführung so nötig sind wie auf dem Schlacht- 
feld. 
Die Gewohnheit der mißtrauischen Kontrolle wurde dem Darlament 
so lieb, daß sie auch aufrechterhalten wurde, als im Oktober 1918 und 
später Männer, die das Vertrauen der Mehrheit besaßen, an die Spitze 
der Regierung traten. Der Reichstag folgte damit gleichzeitig dem bösen 
Dämon der deutschen Seele, dem tief innewohnenden Haß gegen freiwillige 
Unterordnung, der in einem so schreienden Gegensasß zu der Bereitwillig- 
keit steht, sich in eine erzwungene Unterordnung zu schicken. 
So ging allmählich dem deutschen parlamentarischen Leben der Führer- 
gedanke verloren. 
1 Bom 10. Januar 1917. 
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