Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

ersten Septemberwoche herausbildete, schuf eine völlig neue 
Kriegslage. Daran hätte meines Erachtens sogar ein tak- 
tischer Sieg südlich der Marne — mehr war keinesfalls 
erreichbar — nichts Entscheidendes geändert. 
Der llbergang zur Abwehr nach dem unerhörten Sieges- 
lauf der ersten Kriegswochen war unvermeidlich. Das er- 
hellte übereinstimmend aus der inzwischen eingetretenen 
Kriegslage in Ost und West. Dort zwang die russische 
Übermacht, dem hartbedrängten treuen Bundeogenossen 
schleunigst beizuspringen, um einer Vernichtung desselben 
vorzubeugen. 
Daran änderte selbst der neue Sieg Hindenburgs über 
Rennenkampf zunächst nichts andereo, als daß er der 
deutschen Heeresleitung die Freiheit schuf, Hindenburgs 
siegreiche Armee sofort nach Südpolen zur direkten Unter- 
stützung des kaiserlich und königlichen Feldheeres zu werfen. 
Auch im Westen reichte die deutsche Heereskraft nicht 
mehr zur Fortsetzung der Offensive aus. Das erwies der 
mißglückte Versuch ihrer Wiederaufnahme von Mitte Sep- 
tember bis zum November 1914. 
Zweifellos hat der vorzeitige Abbruch der Marneschlacht 
das Wesen des Krieges völlig verändert. Die französische 
Entmutigung ist in einen Volksaufschwung ohnegleichen ver- 
wandelt, die Leistungsfähigkeit des Feldheeres der West- 
mächte durch den vermeintlichen Sieg riesig gehoben worden. 
Für uns Deutsche ist durch den Ausgang der Marne- 
schlacht die stolze Hoffnung vernichtet worden, welche den 
deutschen Soldaten seit 1871 zu nie rastender Arbeit an- 
gespornt hatte. Es war infolge der Marneschlacht nicht 
gelungen, das Feldheer der Westmächte vernichtend zu 
schlagen, ehe das russische ibirksam wurde. 
Damit war der Weltkrieg für die Mittelmächte tatsächlich 
verloren. Daran vermochte der heldenhafte vierjährige 
Widerstand des deutschen Volksheeres und seiner Ver- 
bündeten nichts mehr zu ändern trotz aller Waffensiege und 
Landeroberungen. 
Es wird erzählt, ein Vertreter des Generalstabs habe 
vor dem Hecresausschuß des Reichstages, als er den deutschen 
Kriegoplan entwickelte, auf die Frage: „Was aber, wenn 
der Schlag im Westen nicht oder nicht völlig glückt?“ 
geantwortit: „Dann — finis germanine!“ 
Darin liegt viel Wahres. Mit den Menschenkräften und 
Streitmitteln, welche die deutsche Volksvertretung für den 
seit 24 Jahren — seit Abschluß des französisch-russischen 
Bündnisses — sicheren Weltkrieg zur Verfügung gestellt 
hatte, war der sofortige Vollsieg im Westen wohl möglich, 
aber nicht durchaus sichergestellt. 
Aus Scheu vor den vermeintlich unerschwinglichen Kosten 
war in den letzten Jahren vor dem Kriege für den Ausbau 
der deutschen Wehrkraft nicht alles geschehen, was möglich 
war und was, als die Notwendigkeit dann zwang, später 
während des Krieges fast reibungslos, schnell und gut 
geschah. 
Kaum die Hälfte der verfügbaren wehrhaften Männer 
war von der „allgemeinen“ Wehrpflicht erfaßt worden. 
Wir haben bei der Marneschlacht gesehen, daß nur zwei 
oder drei Korps fehlten, um den Vollsieg zu erringen. 
Dasselbe gilt für den Osten. Jahlen dabei zu nennen 
erübrigt sich. Ein genügend starkes Deckungoheer in Ost- 
preußen bei Kriegsbeginn hätte den Russeneinbruch ver- 
hindert, unersetzliche Volksverluste verhütet und riesige 
Werte gerettet. 
Ferner: eine starke deutsche Hilfsarmee zur Seite unseres 
Verbündeten hätte das allein zu schwache österreichisch- 
ungarische Feldheer gegenüber der russischen Ubermacht ge- 
nügend gestützt, vielleicht ihm die Uberlegenheit gebracht. 
Voll bitteren Schmerzes hatte der vorausschauende Ge- 
neralstabschef Graf von Schlieffen bereits am 13. Sep- 
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tember 1911 an den Herausgeber der Deutschen Revue 
geschrieben: „Da 6° Millionen Deutsche nicht mehr aus- 
gebildete Soldaten stellen als 41 Millionen Franzosen, wird 
sich Deutschland allein Frankreich gegenüber in der Minderzahl 
befinden, ganz abgesehen von den englischen und vielleicht auch 
den belgischen Truppen, die jenen zu Hilfe kommen wer- 
den. — Auch Italien wird in einem Kriege nur in den 
Reihen der Gegner der zwei übrigen Dreibundmächte zu 
finden sein.“ 
Daß die deutsche Volkovertretung diesem Notschrei des 
treuen Ekkehart des deutschen Volkes gegenüber taub blieb, 
büßen wir schwer. Wäre das Ubergewicht, wie es möglich 
war, von vornherein der deutschen Wehrmacht gesichert 
gewesen, so hätte zweifellos der Krieg in Kürze siegreich 
beendet werden können. Wir wären vor dem Schicksal 
bewahrt geblieben, nach einem heldenmütigen Widerstand 
von mehr als vier Jahren als Herrenvolk unterzugehen. 
Der Feldzugsplan des Grafen von Schlieffen sah für 
den Fall des Zweifrontenkrieges schnellste Uberwältigung 
der Westgegner vor, ehe die russische Ubermacht wirksam 
werden konnte. Der Plan entsprach dem damaligen Kräfte- 
verhältnio und der russischen Kriegsbereitschaft. Er ver- 
sagte 1914 angesichts der völlig veränderten Verbedingungen. 
Die Leitung des preußischen Generalstabs und Kriegs- 
ministeriums, denen im alten deutschen Reiche tatsächlich 
und ausschließlich die Vorbereitung eines Krieges zufiel, 
ist vor dem Kriege vom Kaiser Männern anvertraut worden, 
welche das Vertrauen des Vaterlandes nicht zu rechtfertigen 
vermocht haben. 
Der große Angriff im Westen verlief wie ein riesen- 
haftes Kaisermanöver mit gewaltigen, in der Kriegsgeschichte 
einzig dastehenden Truppenleistungen und glänzenden An- 
fang#erfolgen, um schließlich wie ein Brillantfeuerwerk zu 
verpuffen. Das war mein Eindruck während und nach 
dem Marnefeldzug. 
Jetzt erkennen wir die Marneschlacht als des deutschen 
Volkes furchtbarstes Trauerspiel mit seinem raschen Auf- 
stieg zu schwindelnder Höhe unvergleichlichen Waffen- 
erfolgs, dem plötzlich und jäh der tiefe Absturz folgte, 
herbeigeführt nicht durch einen tüchtigeren Feind, sondern 
lediglich durch die menschliche Unzulänglichkeit weniger, an 
entscheidende Stelle gehobener Männer. Das Mißlingen 
des deutschen Gewaltschlags gegen die Westgegner i#t aber 
in letzter Linie verursacht — und darin liegt des deutschen 
Volkes tragische Schuld — durch eine kleinliche, selbst- 
süchtige Volkovertretung, die an Voraussicht und Opfer- 
willen nicht im entferntesten an die gewaltige Größe heran- 
reichte, zu der sich das deutsche Volk aus eigner Kraft 
in der Vorkriegszeit emporgeschwungen hatte. 
Ich habe bei Schilderung der Ereignisse die Zeitpunkte 
festgelegt, wo die Oberste Heeresleitung meines Erachtens 
nicht verstanden hat, die Gunst der Lage auszunutzen. 
Aber auch die Bereitstellung der lebendigen Heereskraft, 
die bei Kriegsbeginn der Heeresverwaltung tatsächlich zur 
Verfügung stand, hat versagt. Hier nur ein Beispiel aus 
dem Nahmen des Angriffsflügels des deutschen Westheeres. 
Man wußte, daß die Franzosen jedem Korps eine fünfte 
Infantericbrigade — abgesehen von den zahlreichen Re- 
servedivisionen — beigeben würden. - 
Deutscherseits wurden dem Angriffsflügel des Westheeres 
zwölf Landwehr-Infanteriebrigaden, die für den Bewegungs- 
krieg nicht genügend ausgestattet waren (keine Maschinen- 
gewehre, Feldküchen, Schanzzeugwagen, Fernsprecher usw.), 
für Etappenzwecke zugeteilt. Sie stellten den Kampfwert 
der Infanterie von drei Armeekorps dar. Den Korpo des 
Stoßflügels fest eingegliedert und genügend für den Be- 
wegungskrieg ausgerüstet, hätten sie ausgereicht, um in 
der Marneschlacht den Erfolg zu sichern. Bei der dritten
	        
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